Frau sitzt auf Yoga-Matte und meditiert.
Dossier: Stress und Entspannung

Achtsamkeitstraining: im Jetzt leben

Wie bewältigt man den Alltag mit Freude und Gelassenheit statt mit Stress? Die Mindfulness-Trainerin Angelika von der Assen ist überzeugt, dass Meditation und Achtsamkeit die Schlüssel für ein erfülltes Leben sind.

Text: Julie Freudiger & Isabelle Fretz, Fotos: Kostas Maros & iStock

Im Alltag gibt es viele Stressfallen: fordernde Vorgesetzte, Termine ohne Ende, Konflikte in der Familie … Immer mehr Menschen stossen an die Grenzen ihrer Kräfte. Laut Job-Stress-Index der Gesundheitsförderung Schweiz haben rund ein Drittel der Erwerbstätigen Stress und fühlen sich emotional erschöpft. Zum Glück gibt es Mittel und Wege, dem entgegenzuwirken – beispielsweise mit Meditation und Achtsamkeitstraining.

Was ist Achtsamkeit?

Die Übersetzung des englischen Begriffs «Mindfulness» mit dem deutschen Wort «Achtsamkeit» ist etwas missverständlich. Während die Bedeutung im Englischen eindeutig ist – es geht um den «Mind», also den Geist oder die Gedanken –, wird «achtsam sein» oft mit «behutsam sein» gleichgesetzt.

Bei Achtsamkeitstrainings geht es aber vielmehr darum, bewusst wahrzunehmen, was der eigene Geist oder die Gedanken machen. Organisations- und Unternehmenspsychologin Angelika von der Assen sagt, die kürzeste Definition von Mindfulness sei Bewusstsein. Also ganz bewusst realisieren, was hier und jetzt geschieht. In anderen Worten: Achtsamkeit ist eine Form der Meditation.

Wissenschaftler konnten durch die funktionale Magnetresonanztomografie vor gut zehn Jahren zeigen, dass sich das Gehirn durch regelmässige Meditation dauerhaft verändert. Aktuell besagt die Forschung, dass man an 21 aufeinanderfolgenden Tagen mindestens zehn Minuten meditieren muss, damit dieser Effekt eintritt.

Stressbewältigung durch Achtsamkeit

Ein toller Job, Attraktivität, ein unvergesslicher Urlaub: Um all das zu bekommen, muss man unheimlich viel geben. Von der Assen nennt das «Action Addiction», den Tun-Modus. Dabei liegt die grösste Stressfalle im eigenen Denken. «Im Aussen gibt es eigentlich keinen Stress: Wie ich auf eine Situation reagiere, hängt von meiner Denkweise ab. Entweder lasse ich mich von meinen Gedanken, Emotionen und Glaubenssätzen steuern, oder ich bestimme bewusst, wie ich handeln will», so die Expertin.

Raus aus dem Aktionismus – rein in die Balance

Das Problem dabei: Viele Menschen wissen nicht, wie ihr Gehirn funktioniert. Woher die Gedanken kommen, die sie unter Druck setzen und die ihnen den Schlaf rauben. «Um das herauszufinden, müssen wir innehalten und die Gedanken und die Atmung beobachten», erklärt von der Assen. Und genau da setzt auch das Achtsamkeitstraining an.

Mehr Achtsamkeit = weniger Stress

Achtsamkeit stärkt die Widerstandskraft, so von der Assen. «Auch wenn der Orkan um mich herum tobt, weiss ich, wie ich innerlich ruhig bleiben kann.» Etwa indem man sich bewusst macht, dass alles vergänglich ist. Auch die Krise ist irgendwann vorbei. Meditation hilft zudem, mit starken Emotionen umzugehen, sie zuzulassen und zu akzeptieren. Der dritte Schritt ist, einen optimistischeren Lebensstil zu pflegen.

Mit Meditation den Alltagsstress bewältigen

Meditation hilft dabei, die eigenen Gedanken bewusst wahrzunehmen und zu steuern. Täglich schiessen etwa 60 000 bis 80 000 Gedanken durch unseren Kopf. Die Expertin erklärt: «Es ist sehr geschäftig da oben, wir geben uns dem einfach hin und lassen uns antreiben. Wenn wir aber die Funktionsweise unseres Geistes kennen, sind wir unseren Gedanken nicht mehr ausgeliefert.»

Den unbewussten Automatismen entkommen

Angelika von der Assen empfiehlt eine «heilige Pause», um die Automatismen zu durchbrechen. «Die Zeit zwischen einem Reiz und meiner Reaktion ist das Feld aller Möglichkeiten. Wenn ich realisiere, was gerade passiert, kann ich mich bewusst entscheiden. Das ist Achtsamkeit.»

Achtsamkeit lernen

Was einfach klingt, ist nicht immer leicht umzusetzen. Häufig laufen die immer gleichen Reaktionsmuster ab, und ehe man sich’s versieht, hat man bereits auf eine Situation reagiert. Die gute Nachricht: Achtsamkeit kann man lernen.

Achtsamkeitsübungen für den Alltag

Von bewusster Atmung über stilles Sitzen bis hin zur Gehmeditation: Es gibt viele Übungen, die man zu Hause, unterwegs oder im Büro ganz einfach machen kann. Wichtig dabei: Nehmen Sie sich Zeit und fokussieren Sie sich auf Ihre Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und die Welt, die Sie umgibt.

Richtig atmen

Unsere Atmung ist ein starkes Tool im Umgang mit Stress. Angelika von der Assen empfiehlt: «Holen Sie dreimal tief Atem, wenn Sie von einer Tätigkeit zu einer anderen wechseln. Das entspannt und Sie können wieder klar denken.» Das Prinzip lautet immer: Reiz wahrnehmen – Pause einlegen – bewusst entscheiden. Wenn Sie sich auf Ihre Atmung konzentrieren, legen Sie automatisch eine kurze Pause ein und können danach bewusst entscheiden.

Integrierte Meditation

Meditation unterstützt das mentale Training. Dabei gibt es auch viele integrierte Meditationen, erklärt die Expertin. Beispielsweise sich ganz auf den Abwasch zu konzentrieren – so wie man sich auf den Atem konzentriert. Oder meditativ Zähne putzen, achtsam anderen zuhören, achtsam E-Mails schreiben. «Tun Sie alltägliche Dinge, als ob Sie diese zum ersten Mal täten. Es geht darum, den eigenen Geist zu beobachten und kennenzulernen», so von der Assen.

Gehmeditation

Schritt für Schritt zu mehr Entspannung. Gehmeditation ist nicht bloss spazieren, sondern das bewusste Wahrnehmen des Bewegungsablaufs: Spüren Sie, wie sich der eine Fuss vom Boden abhebt und nach vorne bewegt. Wie er auf dem Boden wieder aufsetzt – erst mit der Ferse. Wie sich dann Ihr Körpergewicht aufs vordere Bein verlagert, wenn Sie die hintere Ferse anheben und die Zehen des anderen Fusses den Boden berühren.

Die «5-4-3-2-1»-Übung

Bei der «5-4-3-2-1»-Übung – entwickelt von der Psychotherapeutin Yvonne Dolan – werden konkrete Wahrnehmungen des Hier und Jetzt beschrieben. Nehmen Sie dazu ganz bewusst eine bequeme Position ein und fokussieren Sie auf einen Punkt im Raum, auf dem Sie Ihren Blick ruhen lassen möchten. Atmen Sie ein paarmal tief ein und aus.

  • Zählen Sie – laut oder in Gedanken – fünf Dinge auf, die Sie in diesem Moment sehen können. Beispielsweise einen Tisch, einen Fernseher, eine Vase und so weiter.
  • Zählen Sie danach fünf Dinge auf, die Sie hören können. Etwa zwitschernde Vögel, Kinder, die draussen lachen, oder ein Auto, das vorbeifährt.
  • Anschliessend zählen Sie fünf Dinge auf, die Sie spüren können. Zum Beispiel den Pullover auf der Haut, den weichen Teppich, der an den Füssen kitzelt, oder das Sofa, auf dem Sie sitzen.

Wiederholen Sie die Übung nun mit vier Dingen, die Sie sehen, hören und spüren. Danach mit drei Dingen und dann mit zwei Dingen. Zum Schluss zählen Sie jeweils ein Ding auf, das Sie sehen, hören und spüren.

Übung macht den Meister

Gedanken abzuschalten, die Stress verursachen, ist eigentlich unmöglich, konstatiert Angelika von der Assen. «Aber wir können uns bewusst werden, dass sie da sind. Querschiessende Gedanken werden auch in der Meditation, für die wir uns bewusst hinsetzen, immer kommen. Wir brauchen sie sogar, denn sie sind Teil des Trainings.»

In solchen Situationen konzentriert sich die Expertin auf Ihre Atmung, nimmt den Gedanken – ohne über ihn zu urteilen – wahr. «Dann gehe ich bewusst zurück zum Atem. Das lässt sich auch im Arbeitsalltag anwenden. Wenn ich eine E-Mail schreibe und mir dabei eine SMS in den Sinn kommt, bemerke ich die Ablenkung – und entscheide mich bewusst dafür, weiter an der Mail zu arbeiten.»   

Achtsamkeitsmeditationen zum Üben

Innehalten, eine Pause machen, atmen, den Körper beobachten und präsent sein: So einfach können Übungen sein, die unmittelbar helfen, Stress zu reduzieren. Angelika von der Assen stellt Ihnen dafür fünf ihrer Mindfulness Meditationen zur Verfügung.

Zu den Achtsamkeitsmeditationen.

Über die Expertin

Angelika von der Assen ist Organisationspsychologin und Mindfulness-Coach. Bevor sie sich 2019 mit Mindful in Business selbstständig machte, leitete sie zuletzt bei der Axpo Führungs- sowie Talentprogramme. Sie ist Trainerin für Search Inside Yourself (SYI) in der Schweiz, Lehrerin für «Achtsamkeit am Arbeitsplatz» sowie Trainerin bei Potential Project, einer achtsamkeitsbasierten Unternehmensberatung für Führungskräfte- und Organisationsentwicklung.  

Teilen