Essstörungen: Arten, Diagnose und Behandlung
Ernährung und Sport werden immer wichtiger. Doch nicht allen tut dieser Trend gut. Immer mehr Menschen entwickeln Probleme mit dem Essverhalten. Ein Überblick über Arten, Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten von Essstörungen.
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Die Tochter meldet sich ständig vom Abendessen ab und behauptet, sie habe schon gegessen. Der Klassenkamerad treibt obsessiv Sport und wiegt danach jedes Gramm Poulet ab. Und die Kollegin schafft es keine halbe Stunde ohne Snack und postet all ihre Mahlzeiten auf Instagram. Harmlose Angewohnheiten oder schon mit einem Fuss in der Essstörung?
«Ob im Freundeskreis, in den Medien oder auf Social Media: Wir sehen heute eine starke Beschäftigung mit der Ernährung», sagt Prof. Dr. med. Gabriella Milos. Die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Essstörungen und Senior Consultant an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Universitätsspital Zürich beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit dem Thema.
«Man arbeitet an seinem Körper, liest alles zu gewissen Nahrungsmitteln, spornt sich auf Instagram dazu an, abzunehmen. Oft findet man dabei aber sehr widersprüchliche Informationen, was gesund sein soll», so die Expertin. «Wie, was und wie viel Menschen essen, bestimmt zu grossen Teilen ihren Lifestyle, die Obsession mit der Ernährung ist akzeptiert. Das macht es schwieriger, eine Essstörung frühzeitig zu erkennen.»
Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen (SGES)
Die Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen ist eine Non-Profit-Organisation. Sie verfolgt das Ziel, die Behandlung, Erforschung und Prävention von Essstörungen und Adipositas bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu verbessern.
Zudem sensibilisiert die SGES Fachleute, vernetzt sie untereinander und bildet sie weiter. Ein wichtiger Beitrag, denn: «Leider werden Essstörungen auch unter Fachleuten noch immer oft bagatellisiert. Wir machen die Ernsthaftigkeit klar», so Präsidentin Gabriella Milos.
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Was ist eine Essstörung?
Natürlich gilt: Nicht jede Person, die zu viel isst, leidet an einer ernsthaften Erkrankung. Ebenso deutet nicht jede erfolgreiche Diät auf Magersucht hin. Der Übergang von gewöhnlichem zu leicht auffälligem Essverhalten und dann zu einer ernsthaften Störung verläuft oft schleichend.
Doch ab wann kann man nun von einer Essstörung sprechen? Da es verschiedene Arten gibt, ist eine allgemeine Definition schwierig. «Was betroffene Menschen aber verbindet ist, dass ihre Beziehung zum Essen und ihrem Körper gestört ist», so Milos. «Die Gedanken zur Ernährung nehmen dann sehr viel Raum ein. Diese Menschen essen entweder zu viel oder zu wenig, nur noch wenige Lebensmittel oder erbrechen nach der Mahlzeit.»
Häufigkeit
In der Schweiz und in anderen industrialisierten Ländern entwickeln rund 3,5 Prozent der Bevölkerung im Lauf ihres Lebens eine Essstörung.
«Zudem nehmen atypische Essstörungen zu», so Milos. «Diese Menschen haben kein normales Essverhalten, passen aber nicht in die engen Definitionen der klassischen Essstörungen. Oft sind es Mischformen oder abgeschwächte Formen.»
Etwa 13 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer haben Probleme irgendeiner Art mit dem Essen (OBSAN-Bericht 2023). Hinzu kommt: Adipositas, oftmals durch krankhaftes Essverhalten ausgelöst, ist ein weltweit zunehmendes Gesundheitsproblem in Industrienationen und sich entwickelnden Schwellenländern.
Geschlechterunterschiede
Frauen sind von Essstörungen häufiger betroffen als Männer. Allerdings gibt es auch in der Art und Weise Geschlechterunterschiede: So ist Anorexie mehrheitlich bei Frauen anzutreffen.
«Neusten Untersuchungen zufolge liegt dies wahrscheinlich auch im Stoffwechsel der Frau begründet», sagt Gabriella Milos. «Ihr Körper ist durch Hormonschwankungen sehr komplex reguliert. Viele Frauen kennen zum Beispiel Heisshungerattacken vor der Periode.» Der Stoffwechsel müsse solche Schwankungen ständig ausbalancieren, was ihn anfälliger für Essstörungen mache.
Studien zeigten zudem metabolische Auffälligkeiten bei Menschen mit Anorexie, und das sogar noch bevor die Krankheit ausbricht. Neu geht die Forschung deshalb davon aus, dass Magersucht eine psychometabolische, nicht mehr nur wie jahrelang angenommen, eine psychische Erkrankung ist.
In einem neuen Forschungsprojekt zum Thema von Prof. Dr. med. Milos wird der Einfluss von künstlich hergestelltem Leptin (ein körpereigenes Hormon) auf Frauen mit Anorexie getestet. «Voruntersuchungen weisen darauf hin, dass die Substanz die depressive Verstimmung und andere Symptome der Magersucht positiv beeinflussen könnte.» Ein neuer Hoffnungsschimmer.
Männer tendieren hingegen zu übermässigem Sport und Anabolikamissbrauch, was in die Richtung einer atypischen Essstörung geht. Sie können aber auch unter klassischen Essstörungen leiden.
Alter
Auch im Alter lassen sich Unterschiede feststellen: Die Magersucht beginnt in der Regel im Jugendalter. Die Bulimie und die Binge-Eating-Störung manifestieren sich oftmals in der späteren Jugend oder im jungen Erwachsenenalter – und reichen sogar noch bis ins vierte Lebensjahrzehnt hinein.
Magersucht (Anorexia nervosa)
Bulimie (Bulimia nervosa)
Binge-Eating-Störung (BES)
Mischformen / neue Formen
Ursachen und Risikofaktoren
Eine alleinige Ursache für Essstörungen gibt es nicht. Meist müssen verschiedene Faktoren zusammenkommen, um in das ungesunde Essverhalten hineinzugeraten. Perfektionismus, Ängstlichkeit, Selbstwertprobleme, depressive Verstimmungen, das Erleben von psychischen oder körperlichen Grenzüberschreitungen und Schwierigkeiten in der Regulation von Gefühlen scheinen bei Essstörungen aber eine Rolle zu spielen.
Hochleistungssportler:innen stärker gefährdet
Oft sind auch Menschen, die leistungsbereit sind und sich viele Gedanken oder Sorgen rund um das Aussehen machen, anfälliger. Die Betroffenen möchten ihren Körper nach ihren Vorstellungen formen. Gerade bei Anorexie oder Bulimie haben die Patient:innen aber eine gestörte Körperwahrnehmung und ein falsches Körperbild – sie empfinden sich als dick, obwohl dies nicht der Fall ist.
Es verwundert daher nicht, dass in Kreisen, in denen es um Leistung, Gewicht und Schönheit geht, besonders häufig Essstörungen entstehen: im Hochleistungssport wie Ballett oder Turnen oder unter Models zum Beispiel.
Unrealistische Schönheitsideale
Besonders das Ideal, dass nur extrem dünne Menschen schön seien, ist gefährlich. Viele Kinder und Jugendliche orientieren sich an unrealistischen (und oft bearbeiteten) Bildern, die in den Medien, in der Werbung und auf sozialen Plattformen präsentiert werden. Schon in frühen Jahren, bevor die eigentliche Essstörung beginnt, haben sie daher oft schon viele Diäten ausprobiert.
Aber auch Erfahrungen wie sexuelle Gewalt oder Vernachlässigung können zu Essstörungen führen. Und: Da in manchen Familien Essstörungen gehäuft vorkommen, wird zudem die Beteiligung der Gene vermutet.
Diagnose: Wann liegt eine Essstörung vor?
Bei Verdacht sollte die betroffene Person an Spezialistinnen und Spezialisten aus Psychiatrie oder Psychologie überwiesen werden. Meist passiert dies durch aufmerksame Ärzte und Ärztinnen. Neben körperlichen Auffälligkeiten wie Untergewicht oder starke Gewichtsschwankungen sind Interviews und Fragebögen zur Selbsteinschätzung ein entscheidendes Instrument zur Diagnose.
Besonders auffällig sind:
- junge Frauen mit niedrigem Körpergewicht
- unter- und normalgewichtige Patient:innen mit Gewichtssorgen
- Frauen mit Zyklusstörungen oder Amenorrhö
- Patient:innen mit Hinweisen auf Mangelernährung
- Patient:innen mit Verdauungsbeschwerden
- Patient:innen mit wiederholtem Erbrechen
- Kinder mit Wachstumsstörungen
Body-Mass-Index liefert erste Hinweise
Übergewicht und Untergewicht werden meist mittels des von der Weltgesundheitsorganisation WHO definierten Body Mass Indexes (BMI) bestimmt. Er gibt an, ob das Gewicht zur Grösse passt. Er ist als Richtwert durchaus sinnvoll. «Auch wenn der BMI immer wieder kritisiert wird, weil er zu wenig über die Körperzusammensetzung aussagt».
So können besonders muskulöse Menschen (beispielsweise Sportler:innen) noch als normalgewichtig eingestuft werden, obwohl die Körperzusammensetzung – wegen des fehlenden Fetts – schon einen auffälligen hormonellen Stoffwechsel aufweist. Die Folge sind dann etwa brüchige Knochen oder eine fehlende Periode.
Behandlung: Welche Therapien gibt es?
Essstörungen sind allesamt ernsthafte Erkrankungen, die es möglichst früh zu behandeln gilt. So ist die Anorexie, die Magersucht, etwa eine der psychischen Erkrankungen mit der höchsten Mortalität. Je schneller diese Krankheit behandelt wird, desto höher sind die Heilungschancen.
Daher ist es für Angehörige und Arbeitskolleg:innen wichtig, auf erste Anzeichen zu achten und nicht abzuwarten: «Wenn eine Person nicht mehr zusammen mit anderen Menschen essen möchte, offensichtlich an Untergewicht leidet, ständig isst und nach dem Essen erbricht, ist es höchste Zeit, Hilfe zu suchen», weiss die Expertin. «Besonders die regelmässige und vertrauensvolle psychologische Begleitung ist dann wichtig. Und: Nicht in den Kampf zu gehen mit der betroffenen Person, sondern die Essstörung als Krankheit anzuerkennen.»
Zwangsbehandlung nur im äussersten Notfall
Zwangsbehandlungen wie eine Zwangsernährung seien zum Glück selten und würden nur gemacht, wenn es um Leben und Tod ginge. «Dann ist der Verlauf schon weit fortgeschritten», weiss Milos.
Wie Betroffenen konkret geholfen werden kann, erklärt die Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen folgendermassen:
Magersucht
Bulimie
Binge-Eating-Störung
Orthorexia nervosa
Neben der psychologischen Begleitung können auch Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige wertvolle Unterstützung bieten.
Über die Expertin
Prof. Dr. med. Gabriella Milos ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH mit Schwerpunkt Konsiliar- und Liasionpsychiatrie.
Ihre klinischen Schwerpunkte sind die interdisziplinäre psychiatrisch-psychotherapeutische
Behandlung von Essstörungen und deren zahlreichen psychischen und somatischen
Begleiterkrankungen. Milos ist zudem Präsidentin der SGES, der Schweizerischen
Gesellschaft für Essstörungen.