Psychotherapiearten: Welche Therapieformen gibt es?
Wer psychologische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, hat es oft nicht leicht: Das Angebot ist vielfältig, die Suche langwierig und die Terminologie verwirrend.

Jede zweite Person in der Schweiz durchläuft mindestens einmal in ihrem Leben eine Phase, in der die Psyche leidet. Doch die wenigsten von uns holen sich rechtzeitig professionelle Unterstützung – bei den 16- bis 40-Jährigen sind es gerade einmal 10 Prozent, schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einem Bericht zu psychischen Belastungen. Das heisst: 90 Prozent der Betroffenen handeln zu spät.
«Die meisten Betroffenen in der Schweiz handeln erst, wenn der Leidensdruck schon so hoch ist, dass er ihr Leben und ihre Gesundheit beeinträchtigt», sagt Nadia Pernollet. Sie verantwortet bei der Schweizer Beratungsstelle Pro Mente Sana den Bereich der psychosozialen Angebote und ist als Beraterin tätig.
«Die meisten Betroffenen in der Schweiz handeln erst, wenn der Leidensdruck schon zu hoch ist.»
Psychotherapie: Wann sollte man Hilfe in Anspruch nehmen?
Man sollte deshalb lieber früh handeln. Dennoch ist eine psychologische Therapie nicht immer angezeigt – schliesslich kennen wir alle Zeiten im Leben, in denen es schwierig ist, wir uns unter Druck fühlen und dies unsere Psyche belastet. Oft finden wir aus eigener Kraft wieder aus einer solchen Phase heraus.
«Suchen Sie dann Hilfe, wenn Sie merken, dass Ihre Belastungen Sie im Alltag einschränken und Sie mit Ihren gewohnten Bewältigungsstrategien nicht mehr weiterkommen», sagt Pernollet. Dazu gehören zum Beispiel Schlafstörungen, die Sie tagsüber bei der Arbeit einschränken, Ängste, die Sie hindern, Dinge zu tun, oder wenn Sie merken, dass Sie sich sozial isolieren.
Selbsttest: Benötige ich eine psychologische Therapie?
Die folgenden Fragestellungen helfen, die eigene Lage besser beurteilen zu können. Fallen Ihre Antworten mehrheitlich mit einem «Ja» aus, ist professionelle Unterstützung sinnvoll:
- Fühlen Sie sich seit längerer Zeit traurig, ängstlich oder überfordert, ohne einen klaren Grund?
- Leiden Ihre sozialen Beziehungen? Fühlen Sie sich oft einsam und haben Sie Schwierigkeiten, sich anderen gegenüber zu öffnen?
- Macht sich Ihr Umfeld Sorgen um Ihren psychischen Zustand?
- Erleben Sie häufig belastende oder aufdringliche Gedanken, die Sie nicht loslassen?
- Greifen Sie häufiger als sonst zu Alkohol oder anderen Suchtmitteln?
- Fällt es Ihnen schwer, sich bei der Arbeit zu konzentrieren?
- Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen alles zu viel wird?
- Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihrem Leben ein Ende zu setzen?
- Haben Sie eine traumatische Erfahrung gemacht, die bis heute nachhallt?
Psychotherapie vs. psychologische Beratung: Was ist der Unterschied?
Wenn Sie entschieden haben, sich professionelle Hilfe zu holen, geht es in einem nächsten Schritt darum, die richtige Therapie zu finden. Hier gibt es grundsätzlich drei Angebotsbereiche: psychologische Beratung, psychologische Psychotherapie oder psychiatrische Psychotherapie.
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Psychologische Beratung
Hier geht es primär um Beratungen, die Sie in einem psychisch schwierigen Moment unterstützen können – wie etwa nach dem Tod einer nahestehenden Person, einem Beziehungsende oder bei dem Gefühl, sich im Kreis zu drehen und allein nicht mehr herauszufinden.
Sie finden hier Hilfestellungen, damit Sie besser durch schwierige Lebensphasen navigieren können. Es wird in einem solchen Gespräch keine Diagnose gestellt – und keine psychologische Behandlung durchgeführt.
«Solche Beratungen sind etwa für Menschen geeignet, die psychisch gesund sind, aber gerade eine schwierige Zeit durchmachen», sagt die psychosoziale Beraterin Nadia Pernollet. Eine solche Beratung sei aber auch für Menschen eine gute Wahl, die psychische Probleme haben und eine erste Anlaufstelle suchen, um anschliessend die richtige Therapie zu finden.Fachperson: Psychologische Beratungen werden von geschulten Personen durchgeführt. Sie haben einen Masterabschluss in Psychologie, welcher sie befähigt, psychologische Beratungen durchzuführen – jedoch keine Therapien.
Kosten: Psychologische Beratungen werden nicht von der Grundversicherung bezahlt. Wer eine solche Beratung in Anspruch nimmt, muss die Kosten selber tragen.
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Psychologische Psychotherapie
Im Zentrum der psychologischen Psychotherapie stehen Gespräche, in denen das Erlebte einer Person, ihre Gedanken und Gefühle sowie ihr Verhalten angeschaut werden und nach Lösungen gesucht wird. Sie sollen die Person befähigen, sich und die Welt wieder positiver zu sehen und die eigene Psyche zu heilen. Es werden in der Regel keine Medikamente zur Behandlung eingesetzt.
«Die Psychotherapie umfasst ganz unterschiedliche Methoden und bietet Menschen mit psychischen Problemen die Möglichkeit, den für sie passenden Ansatz zu finden», sagt die psychosoziale Beraterin Nadia Pernollet.
Fachperson: Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben Psychologie studiert und im Anschluss eine psychotherapeutische Weiterbildung absolviert.
Kosten: Die psychologische Psychotherapie wird von der Grundversicherung bezahlt, sofern die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut eine Zulassung für die Abrechnung über die Grundversicherung hat und Therapieplätze im Anordnungsmodell anbietet. Eine solche Anordnung kann zum Beispiel der Hausarzt oder die Hausärztin ausstellen.
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Psychiatrische Psychotherapie
Auch hier kommen Methoden zum Einsatz, welche das Erlebte, Gedanken, Gefühle und Verhalten analysieren. Ergänzend werden hier oft auch Medikamente eingesetzt, zum Beispiel Antidepressiva.
«Die psychiatrische Therapie ist dann die richtige Wahl, wenn eine Person mit psychischen Problemen starke Symptome aufweist, die es mit Medikamenten erst einmal zu stabilisieren gilt – bevor die Arbeit an der Psyche in Gesprächen stattfinden kann», sagt die psychosoziale Beraterin Nadia Pernollet.
Fachperson: Diese Therapie führen Psychiaterinnen und Psychiater durch. Sie haben ein Medizinstudium absolviert. Viele Psychiaterinnen und Psychiater haben zusätzlich eine Weiterbildung in Psychotherapie absolviert.
Kosten: Die Krankenkasse deckt die Kosten für psychiatrische Therapien.
Vier Verfahren in der Psychotherapie
Die Psychotherapie umfasst zahlreiche verschiedene Methoden, um das seelische Empfinden zu verbessern. Zu den am häufigsten angewandten Therapien zählen die folgenden vier Methoden, die gut erforscht und in ihrer Wirksamkeit gestützt sind:
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Kognitive Verhaltenstherapie
Diese Therapie wird sehr breit zur Behandlung von seelischen Problemen eingesetzt und zählt zu einer der am besten erforschten psychotherapeutischen Methoden. Ziel dieser Therapie ist es, über Gedanken und Vorstellung – also die Kognition – das Verhalten, Erleben und Gefühle positiv zu beeinflussen.
Es geht darum, sich schlechter Gedanken und Vorstellungen bewusst zu werden und umzulernen. Ein Beispiel: Jemand, der unter sozialer Angst leidet, denkt: «Wenn ich auf einer Party etwas sage, werde ich mich blamieren und alle werden mich auslachen.»
In der Therapie hinterfragt die betroffene Person solche Gedanken. Das kann dazu führen, dass sie eine ausgewogenere Perspektive entwickelt, die sie in sozialen Situationen weniger ängstlich macht.
Diese Therapieform ist gegenwarts- und zukunftsorientiert und fördert die Problemlösungskompetenz der betroffenen Person. Sie zeigt ihr, wie sie künftig selber wirksam ihre Probleme lösen kann.
«Wer eine Verhaltenstherapie in Betracht zieht, der sollte sich darüber bewusst sein, dass die wesentliche Arbeit bei einem selbst liegt», sagt die psychosoziale Beraterin Nadia Pernollet.
Die tatsächliche Arbeit – Gedanken, Gefühle, Ansichten auf positive Weise zu verändern – beginne jedoch erst ausserhalb des Praxisraums. Letztlich gelte das aber für jede Psychotherapie, so die Expertin.Fokus: gegenwartsorientierter Fokus auf die eigenen Gedanken, Gefühle und Verhalten
Dauer: 50-minütige Sitzungen, einmal pro Woche
Setting: Gesprächstherapie sitzend, es sind Einzel- oder Gruppentherapien möglich
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Tiefenpsychologisch fundierte Therapie
Diese Methode basiert auf dem Ansatz der Psychoanalyse – und wurde für eine mehr gegenwarts- und zukunftsorientierte Therapieweise weiterentwickelt.
Die gemeinsame Arbeit der Therapeutin und ihres Patienten fokussiert auf Konflikte, die in der Vergangenheit entstanden sind und oft im Unterbewusstsein liegen. Entsprechend wird – gleich wie in der klassischen Psychoanalyse – vorwiegend die Vergangenheit beleuchtet.
Anders als jedoch bei der klassischen Methode trägt die Therapeutin hier eine aktivere Rolle. Zusammen mit dem Patienten deckt sie zentrale Konflikte in der Vergangenheit auf und formuliert Ziele, wie sie diese zusammen auflösen wollen.
Ein Beispiel: Eine Person hat Schwierigkeiten, enge Beziehungen zu führen, weil sie in der Kindheit wiederholt abgelehnt oder nicht genug beachtet wurde. In der tiefenpsychologisch fundierten Therapie würde der Therapeut gemeinsam mit der Patientin untersuchen, wie diese frühen Erfahrungen möglicherweise das heutige Verhalten prägen.
Die tiefenpsychologisch fundierte Therapie eignet sich besonders für Menschen, die tieferliegende, unbewusste Konflikte verstehen und bearbeiten möchten, die ihre gegenwärtigen emotionalen Probleme oder zwischenmenschlichen Schwierigkeiten beeinflussen.Fokus: Unbewusste innere Konflikte, die in der Vergangenheit liegen. Diese sollen aufgelöst zu werden.
Dauer: 50-minütige Sitzungen, ein- bis zweimal pro Woche
Setting: Gesprächstherapie sitzend, es sind Einzel- oder Gruppentherapien möglich
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Psychoanalyse
Diese Therapieform geht auf ihren österreichischen Begründer Sigmund Freud zurück, der sie 1923 entwickelte.
Er – sowie seine heutigen Kolleginnen und Kollegen – gehen davon aus, dass Gefühle und Konflikte im Unterbewussten entstehen und uns in unserer Entwicklung blockieren, weil sie verdrängt wurden. Bei der Psychoanalyse kann die Reise der Patientinnen und Patientenweit in die frühe Kindheit zurückgehen.
Typischerweise spricht die Patientin oder der Patient sehr viel, während sich die Therapeutin oder der Therapeut eher passiv im Hintergrund hält.
Ein Beispiel: Eine Person leidet unter starken Prüfungsängsten, obwohl sie sich gut vorbereitet hat. In der Psychoanalyse könnte sich zeigen, dass diese Angst nicht nur mit der aktuellen Prüfungssituation zusammenhängt, sondern tiefere Wurzeln hat – etwa in frühen Erfahrungen mit übermässiger Kritik oder hohen Erwartungen der Eltern.
Durch die Analyse dieser frühen Erfahrungen kann die Person lernen, ihre Ängste zu verstehen und langfristig zu reduzieren. Die Psychoanalyse eignet sich besonders für Menschen, die tiefgehende, unbewusste Konflikte bearbeiten möchten, Geduld für einen längeren Therapieprozess haben und bereit sind, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Fokus: Rückwärtsgewandt, Blick in die Vergangenheit. Es geht darum, das Geschehene in der Vergangenheit und dessen Auswirkungen zu verstehen. Es gibt keine konkret festgelegten Konflikthemen.
Dauer: 50-minütige Sitzungen, zwei- bis dreimal pro Woche
Setting: Gesprächstherapie im Liegen, Einzel- und Gruppentherapie möglich
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Systemische Therapie
Hier liegt der Fokus auf der Person und ihrem sozialen Umfeld. Diese Therapieform geht davon aus, dass psychische Konflikte vor allem aus den Wechselwirkungen mit dem Umfeld und seinen Personen entstehen (v. a. Familie, Beruf, Partnerschaft).
Die Therapeutin arbeitet in den Sitzungen mit Methoden, mit denen der Patient das persönliche Umfeld anhand von Figuren aufstellen kann. Hier können Familienkonstellationen, Job-Situationen, Partnerschaften oder andere soziale Beziehungen aufgestellt werden.
Die Position einzelner Figuren gibt Aufschluss über mögliche Konflikte – das zeigt sich etwa darin, wie nahe oder weit eine Person seine Familienmitglieder um sich platziert, wer der Person zugewandt ist, wer ihr den Rücken zudreht. «Mit dieser Methode werden Konflikte auf einfache Weise sichtbar», sagt die psychosoziale Beraterin Nadia Pernollet.
Die Therapie sei besonders für Menschen geeignet, die bei der psychotherapeutischen Arbeit das «grosse Ganze» anschauen wollen, sagt Pernollet. Die Unterschiede in der Eigen- und Fremdwahrnehmung werden sichtbar, «oft führt das zu Aha-Erlebnissen, die wesentlich zur Lösung eines Konflikts beitragen».
Konflikte mit Eltern oder in einer Partnerschaft können beispielsweise gut mit der Methode behandelt werden.
Fokus: Wechselwirkungen mit dem sozialen Umfeld
Dauer: 50-minütige Sitzungen, einmal pro Woche
Setting: Gesprächstherapie mit Aufstellung der Personen im sozialen Umfeld, Einzel- oder Gruppentherapien sind möglich
Wie finde ich die beste Therapieform für mich?
Nachdem Sie nun eine breite Übersicht zum psychotherapeutischen Angebot erhalten haben, stellt sich die Frage: Welches ist die passende Therapie für Sie?
«Für diese Entscheidung sollten Sie sich Zeit nehmen und einige Fragen für sich beantworten», sagt Expertin Nadia Pernollet. Die folgenden Fragen helfen als Leitfaden, um die richtige Methode zu finden:
- Was sind meine Beweggründe für eine Therapie?
- Was sind meine Ziele?
- Was erwarte ich von der Fachperson und der Therapie?
- Wie viel Zeit kann oder will ich investieren?
- Wie viel möchte ich in eine Therapie selber einbringen?
- Wie arbeite ich gerne? Brauche ich konkrete Aufgaben?
- Möchte ich Angehörige oder Menschen in meinem Umfeld in die Therapie einbeziehen?
Beziehung zwischen Patientin und Therapeut ist das A und O
Entlang Ihrer Antworten wird dann klar, welche Methoden für Sie infrage kommen. «Haben Sie Ihre Entscheidung getroffen, gehen Sie zur Therapie und schauen Sie, wie Sie sich neben der Methode vor allem auch mit Ihrem Gegenüber fühlen», sagt Pernollet.
Denn: Auch wenn die einen Methoden für die einen besser passen als andere, «so ist die Beziehung zur Therapeutin oder zum Therapeuten ein sehr wichtiger Faktor für den Erfolg einer Therapie», sagt Pernollet. Wie die Wissenschaft belegt, hängen ganze 30 Prozent des Effektes einer Therapie von der Beziehung zwischen Patientin und Therapeut ab.
Die Expertin empfiehlt zudem: Bereiten Sie sich auf das Erstgespräch vor – und erkundigen Sie sich im Gespräch genau über das Vorgehen und wie Sie die Therapie dabei unterstützt, Ihre Ziele zu erreichen. Pro Mente Sana stellt dafür einen Leitfaden bereit, den Sie zum Erstgespräch mitnehmen können.