In den Notfall? Oft sind Sie woanders besser aufgehoben
Viele Schweizer Notaufnahmen sind überlastet. Auch weil sich zu viele Menschen an sie wenden, die keine medizinischen Notfälle sind – vier typische Fälle.
Mehrere medizinische Fachbereiche unter einem Dach, 24 Stunden lang geöffnet, Aufnahme ohne Termin und Überweisung durch eine Facharztpraxis: Immer mehr Menschen bevorzugen den Gang in die Notaufnahme statt in die Praxis. Auch wenn es gar nicht nötig wäre – vor allem abends oder am Wochenende, wenn Arztpraxen geschlossen sind. Allein im Jahr 2021 wurden in der Schweiz fast 686 000 Behandlungsfälle auf Notfallstationen gezählt.
Das Problem: Auch medizinische Bagatellen – etwa ein Zeckenbiss oder verstauchte Knöchel – beanspruchen Personal und Räume, die echte Notfälle – zum Beispiel von einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt Betroffene – dringender bräuchten. Manche aus Bequemlichkeit, etwa weil sie verpasst haben, sich rechtzeitig in der Praxis ein Rezept ausstellen zu lassen. Andere aus Unsicherheit: Vielleicht steckt ja doch etwas Ernstes dahinter? Sind auch Sie manchmal unsicher, was Ihre Symptome betrifft? Mit der Sanitas Medgate App erhalten Sie 24/7 schnelle Hilfe bei gesundheitlichen Fragen.
4 typische Fälle, die keine Notfälle sind
Zeckenbiss
Insektenstich
Sportunfall
Verbrennungen
Nachgefragt beim Experten
Herr Bingisser, wie sicher kann ich mir sein, in einer Schweizer Notaufnahme schnell Hilfe zu bekommen, wenn ich sie brauche?
Wenn Sie ein Notfall sind: sehr sicher! Anhand verschiedener Kriterien sortieren wir Patienten und Patientinnen direkt an der Tür schnell und treffsicher. Wir behandeln nach Dringlichkeit, nicht nach der Reihenfolge an der Tür. Eine Person, die mit Brustschmerzen oder Atemnot zu uns kommt, wird alle anderen überholen. Die Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall ist in den vergangenen Jahrzehnten drastisch gesunken. Wenn ich in der Notaufnahme unter zehn Fällen neunmal Fehlalarm habe, aber einem Menschen das Leben retten kann, ist das ein grosser Erfolg! Die Diskussion um überfüllte Notaufnahmen darf also nicht dazu führen, dass ein Notfall gar nicht erst zu uns kommt.
Ist Bequemlichkeit oder Unwissen der Grund, weshalb sich die Wartebereiche in den Notaufnahmen mit Bagatellfällen füllen?
Wenn alle Menschen selbst wüssten, was sie haben, bräuchten sie keine Ärzte. Das Problem sind aber gar nicht so sehr die einzelnen Patienten und Patientinnen, sondern das Gesundheitssystem. Da sind zum einen die stark begrenzten Öffnungszeiten in Hausarztpraxen, zum anderen ist es der Fakt, dass viele Hausärzte und -ärztinnen nicht mehr ausreichend in Notfallmedizin ausgebildet sind. Vielen Menschen mangelt es ausserdem an der nötigen Gesundheitsbildung, um zwischen Notfall und harmlos unterscheiden zu können. Das ist ineffizient: Zwar ist die Versorgung in der Notaufnahme nicht so teuer wie in der Facharztpraxis – aber sie ist deutlich teurer als beim Hausarzt.
Woran kann man selbst erkennen, was ein Notfall ist?
Immer ernst nehmen sollte man Atemnot, Brustschmerzen, starke Schmerzen im Oberbauch oder akute, sehr starke Kopfschmerzen, ausserdem Funktionsstörungen wie zum Beispiel Lähmungen. Speziell bei älteren Menschen sind plötzlich auftretende Schwächeanfälle gefährlich. Umgekehrt kann man sich die Frage stellen: Bin ich jung und ansonsten gesund? Ja? Dann kann ich mit den meisten Symptomen abwarten, bis am nächsten Tag die Hausarztpraxis öffnet.
Zur Person
Professor Roland Bingisser ist Chefarzt des Notfallzentrums am Universitätsspital Basel.