Dossier: Entscheidungen

In den Notfall? Oft sind Sie woanders besser aufgehoben

Viele Schweizer Notaufnahmen sind überlastet. Auch weil sich zu viele Menschen an sie wenden, die keine medizinischen Notfälle sind – vier typische Fälle.

Text: Stefan Schweiger; Foto: iStock

Mehrere medizinische Fachbereiche unter einem Dach, 24 Stunden lang geöffnet, Aufnahme ohne Termin und Überweisung durch eine Facharztpraxis: Immer mehr Menschen bevorzugen den Gang in die Notaufnahme statt in die Praxis. Auch wenn es gar nicht nötig wäre – vor allem abends oder am Wochenende, wenn Arztpraxen geschlossen sind. Allein im Jahr 2021 wurden in der Schweiz fast 686 000 Behandlungsfälle auf Notfallstationen gezählt.

Das Problem: Auch medizinische Bagatellen – etwa ein Zeckenbiss oder verstauchte Knöchel – beanspruchen Personal und Räume, die echte Notfälle – zum Beispiel von einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt Betroffene – dringender bräuchten. Manche aus Bequemlichkeit, etwa weil sie verpasst haben, sich rechtzeitig in der Praxis ein Rezept ausstellen zu lassen. Andere aus Unsicherheit: Vielleicht steckt ja doch etwas Ernstes dahinter? Sind auch Sie manchmal unsicher, was Ihre Symptome betrifft? Mit der Sanitas Medgate App erhalten Sie 24/7 schnelle Hilfe bei gesundheitlichen Fragen. 

4 typische Fälle, die keine Notfälle sind

Zeckenbiss

Warum das meist kein Notfall ist: Zwar können Zecken gefährliche Krankheiten wie Borreliose oder Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) übertragen. Das Risiko lässt sich aber verringern wenn man schnell reagiert – und zwar, indem man die Zecke selbst entfernt.

Wann es doch ein Notfall ist: Bemerken Sie innerhalb von sechs Wochen nach einem Zeckenbiss grippeähnliche Beschwerden oder rötet sich die Haut um die Einstichstelle ringförmig – Anzeichen einer «Wanderröte» –, sollten Sie unbedingt zum Arzt gehen.

Erste Hilfe für zu Hause: Um eine Zecke zu entfernen, eignen sich unterschiedliche Werkzeuge gleich gut – von speziellen Zangen über Pinzetten bis hin zu Bankkarten. Und notfalls der Fingernagel. Danach die Stelle am besten desinfizieren. Wichtig: die Zecke nicht drehen oder quetschen, sondern möglichst gerade herausziehen!

Insektenstich

Warum das meist kein Notfall ist: Die Einstichstelle schmerzt, brennt, schwillt an und wird rot. Das ist ganz normal. In der Regel heilen Bienen- oder Wespenstiche nach wenigen Tagen von selbst ab. Lästig, aber nicht gefährlich.

Wann es doch ein Notfall ist: Bei Stichen im Mund- oder Rachenraum sollten Sie sofort den Notruf (144) wählen. Wenn die Zunge oder die Schleimhäute anschwellen, droht Atemnot. Ein anderer – wenn auch seltener – Fall ist eine Allergie gegen ein Insektengift. Typische Reaktionen sind dann heftiger Hautausschlag, angeschwollene Gliedmasse, Atemnot bis hin zum Atemstillstand. Wer allergisch auf Insektenstiche reagiert, sollte im Sommer aber ohnehin immer ein Notfallset dabeihaben.

Erste Hilfe für zu Hause: Ist der Stachel in der Haut stecken geblieben, lässt er sich zum Beispiel mithilfe einer Bankkarte herausschieben. Zudem hilft es, die Stelle zu kühlen, um die Schwellung aufzuhalten und den Juckreiz zu lindern.

Sportunfall

Warum das meist kein Notfall ist: Umgeknickt, gestürzt, zusammengeprallt. Alles, was kein Knochenbruch ist, ist in der Hausarztpraxis erst einmal besser aufgehoben als in der Notaufnahme – wenn überhaupt. Sportverletzungen sind schmerzhaft und oft langwierig, aber meist kein Notfall.

Wann es doch ein Notfall ist: Verletzungen an der Wirbelsäule gehören sofort untersucht.

Erste Hilfe für zu Hause: Einfach zu merken und hilfreich als Sofortmassnahme ist die P-E-C-H-Regel: P wie Pause. E wie Eis (Eis zur Kühlung nie direkt auf die Haut packen, sondern in ein Handtuch wickeln). C wie Compression, etwa mit einer elastischen Binde als Verband. H wie Hochlagern. Und dann Geduld.

Verbrennungen

Warum das oft kein Notfall ist: Herdplatte, Backofen, Wasserkocher … Die Küche ist ein gefährlicher Ort. Wird die Haut durch starke Hitze – oder auch Kälte – verletzt, spricht man von einer «thermischen Verletzung». Die Haut rötet sich, sie bildet Blasen, juckt. Verbrennungen entstehen durch trockene Hitze, Verbrühungen durch heisse Flüssigkeiten oder Dämpfe. Meistens bleibt die Verletzung aber oberflächlich. Schmerzhaft, aber kein Notfall.

Wann es doch ein Notfall ist: Verbrennungen werden in vier Stufen eingeteilt. Ab Stufe 2 – wenn untere Hautschichten betroffen sind oder mindestens 10 Prozent der Körperoberfläche – sollten Sie sofort eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen. Zum Notfall wird es erst recht, wenn Rauch eingeatmet wird oder empfindliche Körperstellen wie Kopf, Hände oder Genitalien verletzt sind.

Erste Hilfe für zu Hause: Betroffene Hautstellen sofort zu kühlen ist richtig. Am besten für ein paar Minuten mit nicht zu kaltem Leitungswasser. Längeres Kühlen verringert die Schäden nicht. Eiswürfel nie direkt auf die Haut packen – das macht alles noch schlimmer.

Nachgefragt beim Experten

Herr Bingisser, wie sicher kann ich mir sein, in einer Schweizer Notaufnahme schnell Hilfe zu bekommen, wenn ich sie brauche?

Wenn Sie ein Notfall sind: sehr sicher! Anhand verschiedener Kriterien sortieren wir Patienten und Patientinnen direkt an der Tür schnell und treffsicher. Wir behandeln nach Dringlichkeit, nicht nach der Reihenfolge an der Tür. Eine Person, die mit Brustschmerzen oder Atemnot zu uns kommt, wird alle anderen überholen. Die Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall ist in den vergangenen Jahrzehnten drastisch gesunken. Wenn ich in der Notaufnahme unter zehn Fällen neunmal Fehlalarm habe, aber einem Menschen das Leben retten kann, ist das ein grosser Erfolg! Die Diskussion um überfüllte Notaufnahmen darf also nicht dazu führen, dass ein Notfall gar nicht erst zu uns kommt.

Ist Bequemlichkeit oder Unwissen der Grund, weshalb sich die Wartebereiche in den Notaufnahmen mit Bagatellfällen füllen?

Wenn alle Menschen selbst wüssten, was sie haben, bräuchten sie keine Ärzte. Das Problem sind aber gar nicht so sehr die einzelnen Patienten und Patientinnen, sondern das Gesundheitssystem. Da sind zum einen die stark begrenzten Öffnungszeiten in Hausarztpraxen, zum anderen ist es der Fakt, dass viele Hausärzte und -ärztinnen nicht mehr ausreichend in Notfallmedizin ausgebildet sind. Vielen Menschen mangelt es ausserdem an der nötigen Gesundheitsbildung, um zwischen Notfall und harmlos unterscheiden zu können. Das ist ineffizient: Zwar ist die Versorgung in der Notaufnahme nicht so teuer wie in der Facharztpraxis – aber sie ist deutlich teurer als beim Hausarzt.

Woran kann man selbst erkennen, was ein Notfall ist?

Immer ernst nehmen sollte man Atemnot, Brustschmerzen, starke Schmerzen im Oberbauch oder akute, sehr starke Kopfschmerzen, ausserdem Funktionsstörungen wie zum Beispiel Lähmungen. Speziell bei älteren Menschen sind plötzlich auftretende Schwächeanfälle gefährlich. Umgekehrt kann man sich die Frage stellen: Bin ich jung und ansonsten gesund? Ja? Dann kann ich mit den meisten Symptomen abwarten, bis am nächsten Tag die Hausarztpraxis öffnet.

Zur Person

Professor Roland Bingisser ist Chefarzt des Notfallzentrums am Universitätsspital Basel.

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