Dossier: Stress und Entspannung

Wie Entspannung das Immunsystem stärkt

Dauerstress schadet dem Immunsystem. Wie man die Körperabwehr aktiv stärken kann? Oft ist es gut, bewusst gar nicht so viel zu tun.

Text: Stefan Schweiger; Foto: iStock/South_agency

Will man ein Bild für das Immunsystem finden, müssen oft dicke Mauern und Schutzschilde herhalten. Ganz falsch sind solche Vergleiche nicht, hält das Immunsystem doch Eindringlinge wie Viren und Bakterien, Pilze und Parasiten davon ab, tiefer in den Körper einzudringen und Krankheiten auszulösen. Überall im Körper warten Abwehrzellen mit jeweils ganz unterschiedlichen Aufgaben auf ihren Einsatz. Die einen sind darauf spezialisiert, Krankheitserreger zu erkennen und zu markieren. Andere geben Signalstoffe ab und rufen weitere Abwehrzellen an den Ort des Geschehens, auf dass diese den Kampf aufnehmen.

Sieht man genauer hin, machen es sich martialisch anmutende Bollwerk-Vergleiche aber zu einfach: Das Immunsystem ist eben kein klar lokalisierbares statisches, massives Gebilde. Es ist ein flexibles und komplex aufgebautes Netzwerk von Zellen, Geweben und Organen. Und, das zeigt die Forschung zunehmend, eng verwoben mit der Psyche. Beide sprechen sogar dieselbe Sprache. Nerven- und Immunzellen kommunizieren über dieselben Rezeptoren miteinander, so die Erkenntnis aus den vergangenen Jahren.

Stressreaktion: ein evolutionär sinnvolles Programm mit grossem Haken

Ein einfaches Beispiel, wie der Stressmechanismus funktioniert: Auf eine vermeintliche Gefahr – im Strassenverkehr, beim Sport, einst in Urzeiten als Jäger und Sammler auf der Pirsch durch den Busch – reagiert der Körper mit einer Stressreaktion. Die Pupillen weiten sich, das Herz schlägt schneller, die Atmung beschleunigt sich. Unter anderem wird dabei das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, um den Körper kurzfristig leistungsfähiger zu machen. Auch das Immunsystem klinkt sich ein, um den Körper auf Schadensbeseitigung vorzubereiten: Weisse Blutkörperchen werden dann schneller mobilisiert und die Produktion von Immunzellen wird angekurbelt.

Kurzfristig ist dies ein sinnvoller und überlebenswichtiger Mechanismus. Wohlgemerkt: kurzfristig. Auf Dauer zwingt Stress das Immunsystem aber in die Knie, die Produktion von Immunzellen geht unter Daueranspannung wieder nach unten. Wer permanent unter Stress steht, wird auf Dauer leichter krank und langsamer wieder gesund.

Postitive Gedanken tun dem Immunsystem gut

Wie gut, dass dieser «Body-Mind-Mechanismus» nicht nur in die negative Richtung funktioniert. Studien zeigen, dass sich positive Gedanken zum Beispiel darauf auswirken, wie der Körper auf Impfstoffe anspricht. Was und wie wir denken, tun oder ganz bewusst auch nicht tun, hat also in Form von erholsamen Routinen Auswirkungen auf die Körperabwehr. Die Mechanismen von Immun- und Nervensystem lassen sich in harmonischen Einklang bringen. Man muss es nur tun.

Das 5-Punkte-Programm für ein ausgeruhtes Immunsystem

Öfter mal weniger Stress mit den folgenden fünf Tipps. Ihre Körperabwehr wird es Ihnen danken.

Stress managen

Komplett wird sich Stress im Alltag nie vermeiden lassen. Wohl aber lässt er sich anders organisieren. Berufliche und private Verpflichtungen strikt zu trennen ist ein erster Schritt. Prioritäten zu setzen und einzuhalten, etwa mithilfe von Listen, der nächste.

Positive Erlebnisse schaffen

Abzuschalten und für Entspannung zu sorgen muss nicht heissen, untätig auf dem Sofa zu fläzen. Frische Luft tut gut, Naturerlebnisse tun dies erst recht. Ein idealer Ort zum Durchatmen ist der Wald, zum Beispiel auf einem Spaziergang.

Entspannungstechniken ausprobieren

Ob Atemmeditation, Achtsamkeit, autogenes Training, Yoga oder progressive Muskelentspannung: Mit ein bisschen Übung gelingt es immer besser, die Muskeln zu entspannen, den Blutdruck zu senken und die Gedankenschleifen zu entschleunigen. Die Devise heisst: Ausprobieren! Zusammen mit dem Partner, in einem Kurs oder unterstützt von einer App.

Pausen einlegen

Mit Muskeln ist es wie mit dem Gehirn, wer dauerhaft Leistung bringen will, muss sich zwischendurch erholen: kurze Ich-Zeiten einlegen. Das können Rituale wie eine Tasse Tee, das Hören eines Lieblingssongs oder eine Atemübung sein. Viele kurze Pausen wirken übrigens besser als eine lange.

Gute Nacht

Während wir schlummern, ist der Körper nicht untätig. Er nutzt die Ruhe und kurbelt Reparaturprozesse an. Die T-Zellen des Immunsystems werden dann besonders aktiv. Wie viel Schlaf genug ist? Das ist individuell unterschiedlich, im Durchschnitt sollten es aber schon zwischen sieben und acht Stunden sein.

Ursachen und Anzeichen für ein geschwächtes Immunsystem

Ist das Immunsystem dauerhaft geschwächt, wird man das bemerken: weil man sich zum Beispiel dauerhaft müde und abgeschlagen fühlt oder besonders anfällig für Infekte ist. Dann kommt es häufig zu Erkältungen und grippalen Infekten, eventuell aber auch zu Zahnfleisch- oder anderen Entzündungen. Genauso kann die Wundheilung gestört sein. Auch wenn es lange dauert, bis man sich von einem Infekt erholt, kann dies ein Hinweis auf eine geschwächte Körperabwehr sein.

Ursache können Grunderkrankungen wie etwa Diabetes mellitus, eine Niereninsuffizienz oder HIV sein. Ausserdem – neben Dauerstress – ein ungesunder Lebensstil, da es dann meist an Schlaf, Nährstoffen oder Bewegung mangelt. Oder an allem gleichzeitig.

Warum Kinder und Senioren häufiger unter Infekten leiden

Und dann wäre da noch das Alter: Während sich die Körperabwehr bei Kindern erst aufbauen muss – bei Säuglingen ist sie noch nicht fertig ausgebildet und muss erst jahrelang in Form des spezifischen Immunsystems trainiert werden –, geht ihre Wehrhaftigkeit im höheren Alter wieder zurück. Dann bildet der Körper weniger Immunzellen, Immunreaktionen verlangsamen sich. Deswegen leiden Kinder genauso wie ältere Menschen häufiger unter Infekten. Umso wichtiger ist für beide Gruppen, die jeweils empfohlenen Schutzimpfungen in Anspruch zu nehmen, für Senioren empfiehlt sich beispielsweise die Grippeimpfung.

Bewegung, Stress, Nährstoffe – bitte Mängel vermeiden

Die gute Nachricht: Auch im jungen und höheren Alter profitiert das Immunsystem von einem gesunden Lebensstil. Die eine Wunderpille oder das universelle Hausmittelchen gibt es nicht. Wohl aber ist die Wirksamkeit von regelmässiger Bewegung und ausreichend Schlaf sehr gut belegt. Allzu heftig muss das Training dabei gar nicht ausfallen. Im Gegenteil: Zu intensiver Sport kann das Immunsystem sogar belasten.

Bei der Ernährung kommt es nicht darauf an, auf den einen Nährstoff zu setzen – zum Beispiel Vitamin C –, sondern auf einen ausgewogenen und bunten Mix. Und «bunt» darf man dabei ruhig wörtlich nehmen: Wer beim Einkaufen darauf achtet, dass Obst und Gemüse mit unterschiedlichen Farben von Grün über Gelb bis hin zu Rot im Einkaufswagen landen, hat gute Aussichten, die passende Mischung aus Vitaminen, Mineralien und pflanzlichen Eiweissen zu erwischen.

«Wieder Kraftreserven mobilisieren»

Wer es noch genauer wissen möchte: Wie eng Immunsystem und Gehirn miteinander verbunden sind, erforscht der Psychiater Flurin Cathomas in Zürich. Im Interview erklärt er, wie Entspannungstechniken auf das Immunsystem wirken und welche Nebenwirkungen Entspannungsübungen haben können.

Woran lässt sich das Wechselspiel zwischen Körperabwehr und Psyche am einfachsten beobachten?
Jeder, der schon einmal einen grippalen Infekt gehabt hat, weiss, wie dieser auf die Stimmung drücken kann, einem den Appetit verschlägt oder den Schlaf durcheinanderbringt. Lange Zeit dachte man, dass das Gehirn ein durch die Blut-Hirn-Schranke vom Immunsystem abgeschottetes Organ sei. Mittlerweile wissen wir, dass es viele Kommunikationswege zwischen dem Nervensystem und dem Immunsystem – und umgekehrt – gibt. Diese Interaktionen sind wichtig zur Aufrechterhaltung vieler physiologischer Funktionen. Es wird aber immer deutlicher, dass diese neuroimmunen Interaktionen auch massgeblich an der Entstehung vieler Erkrankungen beteiligt sind. Lang andauernder Stress kann zu chronischen Veränderungen des Immunsystems führen, und entsprechend gehen viele stressassoziierte Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen mit erhöhten Entzündungswerten im Blut einher.

Wie wirken sich dann umgekehrt Entspannungstechniken auf das Immunsystem aus?
Ganz vereinfacht kann man sich das so vorstellen: Das Gleichgewicht von Aktivierung und Entspannung wird unter anderem durch das vegetative Nervensystem gesteuert. Im angespannten Zustand sind insbesondere der Sympathikus und dessen Neurotransmitter – das (Nor-)Adrenalin – aktiv. Bei der Entspannung dominieren dann vor allem der Parasympathikus und dessen Botenstoff Acetylcholin. Das Ziel vieler Entspannungstechniken ist, das Gleichgewicht zuerst in Richtung Parasympathikus zu verlagern, um dann am Ende der Entspannungsübung wieder einen Ausgleich zu schaffen. Aus dieser Mittellage können wieder Kraftreserven mobilisiert werden. Der Sympathikus ist eher inflammatorisch wirksam, also entzündungsfördernd, bei seiner akuten Aktivierung werden Botenstoffe und Immunzellen im Blut erhöht. Der Parasympathikus wirkt dem antientzündlich entgegen.

Haben Entspannungstechniken auch Nebenwirkungen?
Wenn der Parasympathikus zu rasch oder zu stark aktiviert wird, kann das auch negative Folgen haben. So haben einige Menschen, wenn sie das erste Mal Entspannungstechniken üben, negative körperliche Erlebnisse. Am besten beginnt man damit also unter Anleitung in Kursen und mittlerweile gibt es auch viele gute Apps. Wichtig ist, dass man für sich selber herausfindet, was am besten passt – ein Prozess, für den man sich etwas Zeit nehmen sollte. Falls man sich gerade von einer psychischen Erkrankung erholt, sollte man schon eine gewisse Stabilität erreicht haben. Jemandem mit einer schweren depressiven Episode mit ausgeprägter innerer Unruhe oder einer akuten psychotischen Episode eine Entspannungstherapie zu empfehlen, kann die Erkrankung sogar verstärken.

Über den Experten

Privatdozent Dr. Flurin Cathomas ist Oberarzt und Forscher an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Kürzlich veröffentlichte er mit Kollegen eine Studie im renommierten Magazin «Nature», in der er nachwies, wie chronischer Stress neben dem Immunsystem auf Dauer auch das Gehirn verändert.  

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