Prokrastination: Leiden Sie an Aufschieberitis?
Aufschieben, bis nichts mehr geht – oder aufschieben, um sich dann umso beherzter und inspirierter an die Arbeit zu machen? Zwei Expertinnen erklären, was es mit der viel zitierten Prokrastination auf sich hat.
Prokrastination ist der Fachbegriff für das unnötige Aufschieben von Aufgaben – in ihrer ausgeprägtesten Form so lange, bis die Aufgabe entweder gar nicht mehr oder nur unter grösstem Stress rechtzeitig erledigt werden kann. Ein Phänomen, das Arbeits- und Organisationspsychologin Petra Schmid häufig bei Menschen beobachtet, die selbstbestimmt arbeiten und die Erledigung ihrer To-dos selbst organisieren müssen. «Student:innen etwa oder auch Journalist:innen», präzisiert sie und lacht.
Die positiven Seiten der Prokrastination
Wird aktiv prokrastiniert, also aus eigenem Antrieb, zum Beispiel weil man weiss, dass man unter Druck gut arbeitet, kann das durchaus positiv sein. «Man arbeitet dann gezwungenermassen effizient. Zudem kann das Aufschieben zu einer Art Vorbereitung werden. Alles, was bis zum tatsächlichen Erledigen der Aufgabe geschieht, fliesst mit ein, sodass man die Sache unter Umständen kreativer und inspirierter angeht», erklärt Schmid.
Auch Karriere- und Talentberaterin Susanne Pladeck sieht gute Seiten der Prokrastination: «Schiebt man Dinge situativ auf, zum Beispiel indem man die berühmte eine Nacht über wichtige Entscheidungen schläft, kann das hilfreich sein. Denn das verschafft Zeit, Prioritäten zu überdenken und in sich hineinzuhorchen.»
Lähmender Teufelskreis: Die Nachteile der Prokrastination
Prokrastiniert man hingegen passiv, einfach weil man nicht anders kann, wird es gefährlich. «Dann lähmt das Aufschieben und führt in einen Teufelskreis aus Druck, schlechtem Gewissen, Stress. Das reicht je nach Ausprägung bis hin zur Depression», so Petra Schmid. Bei den meisten komme es zwar nicht so weit, aber: «Es ist erwiesen, dass passiv prokrastinierende Menschen zu schlechteren Leistungen neigen und auch Unstimmigkeiten im Team wahrscheinlicher werden. Wenn andere von pünktlich erledigten Aufgaben abhängen, kann dies auf Dauer für alle Beteiligten sehr unangenehm werden.»
Doch auch aktives Prokrastinieren sei mit Vorsicht zu geniessen: «Lernt man beispielsweise für Prüfungen in sehr kurzer Zeit viel auswendig, ist es wahrscheinlich, dass das Wissen nach ebenso kurzer Zeit wieder weg ist.»
Emotionale Prokrastination
Susanne Pladeck subsummiert unter der Prokrastination noch mehr: «Es prokrastiniert auch, wer wichtige Berufs- und Lebensentscheide aufschiebt, klärenden Gesprächen und Konflikten ausweicht oder bei körperlichen und psychischen Beschwerden den Gang zu einem Coach oder einer Ärztin hinauszögert und damit die Gesundheit gefährdet.» Ungut sei die Angewohnheit in fast jedem Fall. Denn man gebe damit die Führung aus der Hand und riskiere, dass das Ergebnis am Ende unangenehmer sei, als es mit einer getroffenen Entscheidung, einem wichtigen Gespräch oder dem Aufsuchen einer Fachperson geworden wäre. Weil dann eben das Leben oder eine andere Person für einen entscheiden.
Zudem ist Pladeck überzeugt, dass man durch Prokrastinieren nicht nur wichtige Deadlines verpasst, sondern einem auch jede Menge Chancen entgehen. «Ewiges Aufschieben macht aus möglichen Erfolgen und Glückserlebnissen im Handumdrehen Misserfolge und Enttäuschungen. Diese wiederum sabotieren sowohl das Selbstwertgefühl als auch das Vertrauen in eine selbstbestimmte Lebensführung.» Das Resultat sei zunehmender Druck von innen wie von aussen. Oder die verpasste Gelegenheit, das individuelle Potenzial voll auszuschöpfen.
Komplett vor Prokrastination gefeit ist niemand. «Wir alle haben Dinge, die wir vor uns herschieben.» Die entscheidende Frage ist darum vielmehr, wie lange und warum wir dies tun. Hier kann ein Gespräch mit einer Vertrauens- oder Fachperson helfen, den Gründen auf die Spur zu kommen und Strategien dagegen zu entwickeln.
Tipps und Tricks gegen das Prokrastinieren
So oder so: Wer an sich Tendenzen zur Prokrastination beobachtet, muss nicht verzagen. Einfache Vorkehrungen können helfen, den Kreis zu durchbrechen:
- Reservieren Sie sich im Kalender ganz bewusst Zeit für die zu erledigende Aufgabe oder die zu treffende Entscheidung. Definieren Sie einen klaren Startpunkt und halten Sie diesen ein.
- Teilen Sie die Arbeit in überschaubare Häppchen ein und seien Sie dabei ehrlich zu sich selbst. Setzen Sie sich erreichbare Zwischenziele. Passen Sie diese wenn nötig situativ an. Der Prokrastination den Rücken zu kehren ist ein dynamischer Prozess. Es gilt, Muster zu durchbrechen. Das gelingt oft nicht auf Anhieb.
- Bauen Sie Kontrollinstanzen ein. Ob Freunde, Teamkolleginnen, Familie oder Vorgesetzte: Wenn Sie andere miteinbeziehen und diesen Rechenschaft schuldig sind, schaffen Sie Verbindlichkeit. Setzen Sie dabei auf Menschen, die dem Unterfangen positiv und unterstützend gegenüberstehen.
- Erstellen Sie Überprüfungslisten und setzen Sie für jede pünktlich erledigte Aufgabe ein Häkchen. So machen Sie Ihre Fortschritte sichtbar.
- Seien Sie nettzu sich selbst. Loben Sie sich für Zwischenerfolge und lassen Sie sich von Hängern nicht entmutigen. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.
Zu den Expertinnen
Petra Schmid arbeitet als Arbeits- und Organisationspsychologin sowie ausserordentliche Professorin am Departement für Management, Technologie und Ökologie der ETH Zürich. Zwar geht sie ihre Arbeitsaufgaben meist zügig an, privat schiebt sie aber auch immer mal wieder etwas auf – zum Beispiel die Besorgung von Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken.
Susanne Pladeck arbeitet bei Talent Solutions, Right Management Zürich als Senior Consultant für Career- und Talent Management und coacht zudem Privatpersonen, die sich beruflich verändern möchten. Persönlich macht sie sich Prokrastination bei kreativen Aufgaben zunutze. Denn dabei ist sie unter Druck am besten.