ADHS: Problem und Potenzial zugleich
Früher hiessen unruhige oder sehr verträumte Kinder Zappelphilipp und Hanns Guck-in-die-Luft, heute haben sie vielfach eine medizinische Diagnose: ADHS. Warum und wie man die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung behandeln lassen sollte und wie es sich im Erwachsenenalter damit lebt.
Sie sind schnell abgelenkt und wirken zerstreut, manchmal auch verträumt. Können sich nur schlecht konzentrieren und schieben Arbeiten gerne bis zum letzten Moment auf. Manche von ihnen sind körperlich unruhig oder tun sich sozial schwer. Viele brechen die Regeln und werden gemobbt. Nicht alle Kinder sind eben fürs Stillsitzen in der Schule gemacht – oder? Eltern solcher Kinder fragen sich oft: Ist das noch im Bereich der Norm oder bereits ADHS?
Die Diagnose der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung können nur Ärztinnen und Psychologen stellen. Nur taten sie gerade das in den letzten Jahren allzu oft: Von einer Verschreibungsflut des Modemedikaments Ritalin war die Rede, von Fehldiagnosen, gar von einer ganzen ADHS-Generation. Diese Beobachtung bestätigt Stephan Kupferschmid, Chefarzt Psychiatrie für Jugendliche und junge Erwachsene an der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland, IPW: «Ich arbeite seit 16 Jahren in der Branche und habe festgestellt: Die Diagnose ADHS war immer in Bewegung und teilweise umstritten. In den vergangenen Jahren fragte man sich oft, ob die psychische Störung nicht zu häufig diagnostiziert werde.»
Wie entsteht ADHS?
Bei Personen mit ADHS ist das Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn (Neurotransmitter) verändert – insbesondere Dopamin und Noradrenalin spielen hier eine Rolle. Mit der Folge, dass Selbststeuerung und Aufmerksamkeit schwerer fallen. Laut Kupferschmid gehe man generell von einem bio-psycho-sozialen Entstehungsmodell aus. Die Entstehungsbedingungen von ADHS sind heterogen und bislang noch nicht vollständig geklärt. Es spielen vor allem genetische Prädispositionen und prä-, peri- und frühe postnatale Umwelteinflüsse eine entscheidende Rolle.
ADHS: unterschiedliche Symptome bei Kindern und Erwachsenen
Zu Beginn wurde diese Verhaltensstörung typischerweise Buben zugeschrieben. Seltener wurden – und werden noch immer – Mädchen mit ADHS oder ADS diagnostiziert. Dies hauptsächlich deshalb, weil sich die Symptome oft anders äussern als bei Jungen. Mädchen sind eher verträumt und still, zeigen sich weniger impulsiv und hyperaktiv und ecken entsprechend weniger an. Und neueste Erkenntnisse zeigen, dass ADHS nicht mit dem 18. Geburtstag endet, sondern dass bei den meisten Betroffenen zwar die Hyperaktivität mit den Jahren nachlässt, die Aufmerksamkeitsprobleme aber bleiben. «Das Thema ist also in der Erwachsenenpsychiatrie angekommen», so Stephan Kupferschmid.
Mit Medikamenten wie Ritalin gegen ADHS?
Inzwischen wird die Diagnose ADHS vorsichtiger, seltener und weniger schnell gestellt. Dabei fliessen verschiedene Beobachtungen ein: Verhaltensweisen des Kindes werden bei Eltern und Lehrpersonen abgefragt und der Leidensdruck beim Kind selbst ermittelt. Psychologische und neurologische Untersuchungen wie Aufmerksamkeitstests runden das Bild ab. Medikamente wie das bekannt gewordene Ritalin kommen nicht mehr automatisch auf den Verschreibungszettel. «Gerade wenn es um Kinder geht, sind Medikamente ein heisses Eisen. Wir betrachten jeden Fall individuell», so Kupferschmid. Manche Kinder litten etwa nach Einnahme von Ritalin plötzlich an Stimmungstiefs. «In diesem Fall wird die Medikation überprüft und gegebenenfalls angepasst, um Nebenwirkungen wie einer Verschlechterung der Stimmung entgegenzuwirken.», sagt Kupferschmidt.
Die gute Nachricht lautet: Ritalin wird sehr schnell vom Körper abgebaut. Und falls die Diagnose ADHS einmal nicht ganz korrekt sein sollte, zeigt das Medikament in den meisten Fällen einfach keine Wirkung und kann direkt wieder abgesetzt werden. Daneben werden in jüngster Zeit auch öfter Amphetaminpräparate verschrieben. Zu ihren möglichen Nebenwirkungen zählen Schlafprobleme und Appetitverlust.
Der Nutzen einer medikamentösen Behandlung überwiegt aber in den meisten Fällen, ist sich Kupferschmid sicher. «ADHS-Medikamente sind meiner Meinung nach sicher, gut untersucht, machen nicht abhängig und sind meist gut verträglich.» Man müsse ja auch die Konsequenz sehen, wenn nicht behandelt werde: Gerade die Jungen würden dann in mehr Verkehrsunfälle verwickelt, hätten ein schlechteres Schulniveau, konsumierten später öfter Drogen. Im Erwachsenenalter häuften sich Scheidungen. ADHS bleibe also tatsächlich über die gesamte Lebensspanne hinweg ein grosses Thema.
«Was oft vergessen geht: ADHS hat viele positive Seiten»
ADHS auch schätzen lernen
Neben den Medikamenten setzt man vor allem auf Psychotherapie und pädagogische Unterstützung im schulischen Bereich (siehe Tipps für Eltern). Gute Erfolge gibt es auch mit Ergotherapie. Älteren Kindern kann Neurofeedback helfen, sich stärker zu fokussieren. Die Heilung ist dabei aber nicht das Ziel. «Denn was oft vergessen geht: ADHS hat viele positive Seiten. Betroffene, die ihre Stärken und Schwächen kennen und ihr Leben daran anpassen können, profitieren sehr von diesen Vorzügen», weiss der Chefarzt. Denn viele sind kreative und schnelldenkende Köpfe, neugierig und aufgeschlossen – besonders oft auch neuer Technik gegenüber. Sie sind weniger nachtragend, dafür experimentierfreudig und verlassen dabei gerne ausgetretene Pfade. Viele können sich auch völlig in ein Aufgabenfeld vertiefen, das sie fasziniert und ihren Fähigkeiten entspricht. Vielleicht passt dann eben eher eine Lehre, bei der man kreativ arbeiten kann und es weniger um die exakte Ausführung geht. Oder ein Studium, das sich mit dem Lieblingsthema deckt und nebenbei Zeit für Bewegung lässt.
Kupferschmids ältester Patient ist übrigens 60. Erst vor zehn Jahren wurde ADHS bei ihm diagnostiziert. «In der Verwaltung funktionierte der Mann gut. Dann aber machte er sich selbstständig und musste alles selber organisieren. Da gab es grosse Probleme. Die Störung wurde augenfällig», so Kupferschmid. Den eigenen passenden Weg zu finden – für Menschen mit ADHS kann dies eine Lebensaufgabe sein. Eine mit grossen Erfolgsaussichten.
ADHS – ein Familienthema: Tipps für Eltern
Schule und Eltern: Eng zusammenspannen
Der frühe Austausch mit Lehrpersonen ist wichtig, da Aufmerksamkeitsdefizite und Impulsivität in der Schule erst richtig auffallen.«Oft können kleine Veränderungen viel bewirken», sagt Dr. med. Stephan Kupferschmid. «Zum Beispiel wenn das verträumte Mädchen im Klassenzimmer vorne sitzen darf, wo die Lehrperson es immer wieder ansprechen kann. Oder wenn dem verhaltensauffälligen Buben ein wichtiges Ämtli anvertraut wird, was Selbstwert verleiht.» Ausserdem gebe es oft gute Angebote zur gezielten Förderung bei häufigen Symptomen von ADHS, etwa bei motorischen Schwierigkeiten oder bei Lese-Rechtschreib-Störungen, und später auch Behandlungsangebote für neu auftretende Depressionen und Angststörungen.
Regeln und Struktur
«Viele Familien mit von ADHS betroffenen Kindern profitieren von einer Struktur, in der Abläufe klar besprochen werden. Familienrituale machen Sinn und bringen Ruhe in den Alltag», weiss der Kinder- und Jugendpsychotherapeut.
Nicht in eine Negativspirale geraten
«Die Gefahr ist gross in einen Teufelskreis zu geraten, wenn man Kinder hat, die nicht so pflegeleicht sind und nicht überall reinpassen», sagt Kupferschmid. Strafende Erziehungsmethoden sind keine gute Lösung. Vielmehr sollte man auch die positiven Seiten wie Kreativität und Offenheit des Kindes mit ADHS sehen und dem Kind die Gewissheit geben, dass es seinen Weg finden wird.
Durch Austausch Experte werden
Neben Erziehungsberatungen sind Selbsthilfegruppen hilfreich. So lernt man mit ADHS in der Familie umzugehen.
Weitere Infos gibt es bei der ADHS-Organisation elpos sowie der SFG-ADHS.