Notfallmedizin: Entscheidungen im Sekundentakt
Ein Blick hinter die Kulissen der Universitätsklinik für Notfallmedizin des Inselspitals Bern liefert Einblicke in eine komplexe Welt, in der alles sehr schnell gehen muss. Und weckt Verständnis und Dankbarkeit.
Der Patient ist 33 Jahre alt. Kopfverletzung nach einem Sportunfall. Vor eineinhalb Stunden hat die Rega die intensivmedizinische Behandlung begonnen und noch immer ist der Patient instabil. Inmitten einer Traube von Ärzten und Pflegepersonal liegt er im Schockraum 1 der Universitätsklinik für Notfallmedizin im Inselspital Bern.
An einem Ende des Patienten steht Sabrina Jegerlehner, die diensthabende Oberärztin. Sie verfolgt die Handgriffe ihrer Kolleginnen und Kollegen. Ihre Konzentration ist beinahe greifbar, und trotzdem wirkt sie routiniert, entspannt. Seit sieben Jahren arbeitet die 38-Jährige auf dem Notfall.
Kreativ, flexibel und stressresistent müsse man dafür schon sein, meint die Bernerin. «Man muss damit leben können, dass nicht immer alles perfekt läuft.» Eine Kollegin liest die Befunde vor. Der Patient ist stabilisiert und soll bald extubiert werden, das heisst, die künstliche Beatmung wird abgestellt.
Und dann? «Dieser Patient kommt auf die Intensivstation zur Überwachung», sagt Jegerlehner.
Im Notfall geht's plötzlich von null auf hundert
Es ist Freitagabend gegen 20 Uhr. Besucherinnen, Besucher und Tagespersonal des Inselspitals haben sich bereits ins Wochenende verabschiedet. Die Flure sind verwaist, die Bettenstationen wirken verschlafen.
Die Universitätsklinik für Notfallmedizin aber vibriert unter Bereitschaft. Hier wartet man auf die Hektik eines normalen Freitagabends. «Diese Kurve zeigt die prognostizierte Auslastung.» Jegerlehner deutet auf ihrem Computer auf eine rote, wellenförmige Linie. «Im Moment sind wir darunter, es ist also verhältnismässig ruhig. Aber das kann plötzlich losgehen.»
In Sekundenschnelle kann der Notfall zum Bienenstock werden, lebensbedrohliche Fälle wie Unfallopfer oder Herzinfarktpatienten haben gemäss der Schweizerischen Triage Skala (SETS) erste Priorität. Die drei Schockräume, in denen in Lebensgefahr schwebende Patientinnen und Patienten direkt nach ihrer Ankunft behandelt werden, sind dann innert Minuten belegt.
Weniger akute Fälle, um die sich das medizinische Personal in den insgesamt 30 Behandlungskojen der Universitätsklinik für Notfallmedizin kümmern, müssen warten. Noch länger müssen sich sogenannte Bagatellfälle gedulden – teils stundenlang. Und doch gibt es davon immer mehr: «Die Menschen haben verlernt, krank zu sein», stellt Nicole Winkler, Stationsleiterin Pflege, fest. Aber nicht nur Bagatellfälle nehmen zu, auch insgesamt ist die Patientenzahl von 38 000 im Jahr 2013 auf mittlerweile rund 60 000 pro Jahr gestiegen.
Sicherheitspersonal gehört zum Notfall-Alltag dazu
Das bedeutet zusätzliche Betten, Räume, Medizin. Aber auch zusätzliches Pflegepersonal und viel Geduld aufseiten der immer zahlreicheren Patientinnen und Patienten. «Schimpfwörter, Aggressionen, Tätlichkeiten gibt es fast täglich», schildert Nicole Winkler die Folgen der Überlastung. Sie steht im Lichthof der Universitätsklinik für Notfallmedizin, wo man wiederholt Securitas-Personal patrouillieren sieht.
Winkler orchestriert den Notfall, koordiniert Angestellte und Ressourcen seit 12 Jahren. Sie redet nicht um den heissen Brei herum: «Den Mitarbeitenden setzt die zunehmende Gewalt enorm zu. Man muss aufpassen, deswegen nicht die Empathie zu verlieren. Sonst kann man aufhören», sagt Winkler und seufzt. Der Frust schwingt mit.
Niemand wird ungesehen heimgeschickt
Dass es jährlich mehr Notfälle werden, ist ein Problem, erklärt auch Sabrina Jegerlehner: «Seit der Pandemie gibt es sehr viele sehr kranke Patientinnen und Patienten.» Hinzu komme die wachsende Zahl älterer Menschen mit Herzinfarkt oder Schlaganfall. Plus die vielen Personen mit medizinischen Kleinigkeiten, Fälle für den Hausarzt, den heute viele Leute nicht mehr hätten, berichtet die Oberärztin.
«Da kommen Menschen mit einer Erkältung oder einem verstauchten Fuss zu uns. Diese kosten uns an hektischen Tagen dann den Kragen, weil wir zu wenig Kapazitäten haben.» Trotzdem gilt: «Wer bei uns zur Tür hereinkommt, definiert sich als Notfall und wird als solcher behandelt.»
Jegerlehners Mobiltelefon läutet. Es ist 21.30 Uhr. Wieder wird ein Rega-Patient angemeldet, der zweite innert 30 Minuten. Ein 58-jähriger Mann mit zweimaligem Herzstillstand. «Jetzt nimmt’s doch nochmal zu», sagt sie und macht sich auf in Richtung Stützpunkt mit den 30 Behandlungskojen.
Sportunfälle im Notfall: viel Respekt, aber keine Angst
Hier werden Patientinnen und Patienten in nicht unmittelbar lebensbedrohlichem Zustand überwacht. Darunter Jamie. Der 22-Jährige aus Zollikofen liegt im Halbdunkel. Ein Halskragen und eine Vakuum-Matratze fixieren seine Wirbelsäule.
Vor zwei Stunden hat ihn die Rega eingeflogen, direkt vom Gran-Masta-Park in Adelboden: «Die Schanze war vereist. Beim Absprung bin ich ausgerutscht und direkt auf den Rücken geknallt.» Die Diagnose: Fraktur und Verschiebung des fünften Halswirbels. Verschiebt sich der Wirbel noch weiter, ist Jamie dauerhaft gelähmt oder stirbt, hat ihm die Pflegerin gesagt.
Sportunfälle lassen auch die Oberärztin nicht kalt. Es ist 22.30 Uhr, Jegerlehner steht vor dem Schichtende. «Ich habe beim Sport schon mehr Respekt. Aber zu sehr darf man sich von unserem Berufsalltag auch nicht verängstigen lassen», sagt sie und hastet zum Rapport.
Pünktlich kann sie dann aber doch nicht los, die Übergabe ist wichtig, denn sie garantiert, dass die Patientinnen und Patienten weiterhin gut versorgt sind. «Man koordiniert erneut, übernimmt nochmals einen Notfall und schaut, dass die Nachtschicht nicht gleich in Arbeit schwimmt. Vorher geht niemand gerne nach Hause.»