Was ist spinale Muskelatrophie?
Die Erbkrankheit spinale Muskelatrophie führt zu Muskelschwund. In den meisten Fällen zeigen sich die ersten Symptome einige Wochen bis zwei Jahre nach der Geburt. Welche Therapiemöglichkeiten gibt es und welche Herausforderungen erleben Betroffene?
Inhaltsverzeichnis
Die spinale Muskelatrophie, kurz: SMA, ist eine seltene, neuromuskuläre Krankheit, die zu zunehmender Muskelschwäche, Muskelschwund und Lähmungserscheinungen führt. In den meisten Fällen treten die Symptome in den ersten zwei Lebensjahren auf. Für die Eltern der betroffenen Kinder ist das ein Schock, denn bis dahin hat meist nichts auf eine Beeinträchtigung oder Erkrankung hingewiesen. Früher führte SMA in vielen Fällen unbehandelt zu sehr schweren Beeinträchtigungen und letztlich zu Atemversagen. Die Kinder verstarben in den ersten Jahren. Mittlerweile gibt es Therapien, die den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen oder gar ganz hemmen können.
Symptome des Muskelschwunds
Ohne medikamentöse Therapie bauen sich die Muskeln langsam und stetig ab. Am stärksten vom Muskelschwund betroffen sind die rumpfnahen Muskeln, also Muskeln in den Schultern, der Hüfte und dem Rücken. Die Symptome hängen vom Schweregrad des Leidens und vom Alter ab, in dem es ausbricht. Tritt SMA schon sehr früh auf, können Babys wichtige motorische Fähigkeiten wie etwa den Kopf heben oder selbstständig sitzen nicht entwickeln. Je später die ersten Symptome auftreten, desto milder ist der Verlauf.
Der Muskelverlust und die Schwäche führen nicht nur dazu, dass Betroffene nicht mehr oder nicht mehr gut gehen und die Arme heben können, sie bringen auch weitere Herausforderungen mit sich. So führen sie beispielsweise zu Schwierigkeiten beim Essen und Schlucken, lagebedingten Schmerzen, krankheitsbedingter Müdigkeit (Fatigue), Gelenkfehlstellungen oder Wirbelsäulenkrümmung (Skoliose). Bei schweren Fällen ist zudem die Atemmuskulatur betroffen, was zu Atemversagen führt. Auf die Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Riechen und Schmecken hat SMA hingegen keinen Einfluss. Ebenso wenig beeinträchtigt die Erkrankung die intellektuellen Fähigkeiten. «Es gibt durchaus Patienten, die motorisch stark beeinträchtigt sind, aber dennoch voll im Berufsleben stehen. Einer unserer Patienten ist beispielsweise Anwalt mit einer eigenen Kanzlei, auch wenn er im Rollstuhl ist und für die alltäglichen Dinge viel externe Unterstützung benötigt», erzählt PD Dr. Christoph Neuwirth, stellvertretender Leiter des Muskelzentrums am Kantonsspital St. Gallen. Es ist eines von sechs Kompetenzzentren für neuromuskuläre Erkrankungen in der Schweiz und zudem ein Referenzzentrum für seltene Krankheiten.
Krankheitsverlauf: die verschiedenen Typen der spinalen Muskelatrophie
Bei SMA werden verschiedene Typen unterschieden, wobei das Alter bei Ausbruch der Erkrankung und die bestmögliche motorische Funktion, welche die Patienten erreichen, ausschlaggebend sind. Die Übergänge zwischen den Typen sind fliessend. Typ-1-SMA ist die häufigste Variante.
SMA Typ 0
SMA Typ 1
SMA Typ 2
SMA Typ 3
SMA Typ 4
Was ist die Ursache von spinaler Muskelatrophie?
Spinale Muskelatrophie ist eine Erbkrankheit, bei der diejenigen Nervenzellen untergehen, die Bewegung ermöglichen. Damit wir beispielsweise einen Arm beugen können, sendet das Gehirn Impulse an die Muskeln. Das passiert über zwei nacheinander geschaltete Nervenzellen. Die ersten befinden sich im Gehirn, die zweiten in der Wirbelsäule im Rückenmark. Wenn nun diese zweiten Nervenzellen, die sogenannten Motoneuronen, nicht mehr richtig arbeiten, können die Impulse vom Gehirn nicht in den Muskel gesendet werden. In der Folge kommt es zu Muskelschwund und Lähmungen. Ursache für den Untergang der Motoneuronen ist ein defektes Gen: das SMNE1-Gen. Ohne dieses funktionieren die motorischen Nervenzellen nicht mehr. Es gibt aber ein Back-up: das SMNE2-Gen. Dieses funktioniert zwar nicht ganz so gut wie das SMNE1-Gen, aber es kann dennoch dazu beitragen, dass die Nervenzellen nicht ganz untergehen. Der Krankheitsverlauf wird daher milder, je mehr SMNE2-Gene eine Person hat.
In der Regel wird das Leiden autosomal-rezessiv vererbt. Das heisst, dass es von beiden Elternteilen je ein verändertes Gen benötigt. Wenn beide Eltern Träger der Krankheit sind, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind an SMA erkrankt, bei 1:4. SMA gehört zwar zu den seltenen Krankheiten, doch innerhalb dieser Kategorie zu den häufigeren Varianten. Laut der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke ist eine von 45 Personen Träger eines krankheitsverursachenden Gens.
Was hilft bei spinaler Muskelatrophie?
Da SMA bislang nicht heilbar ist, liegt der Fokus der Behandlung darauf, die Beschwerden zu mildern und ein Fortschreiten der Krankheit so lange wie möglich hinauszuzögern. Die Basis der Behandlung bilden beispielsweise Physio- und Ergotherapie, Logopädie und das Training der Atemmuskulatur. Seit Kurzem befindet sich die Behandlung von spinaler Muskelatrophie im Wandel. Neue medikamentöse Therapien machen Betroffenen Hoffnung.
Neue Behandlungen für spinale Muskelatrophie
Die ersten SMA-Medikamente sind erst seit einigen Jahren auf dem Markt. Zwar können bereits untergegangene Nervenzellen nicht wiederhergestellt werden, doch: «Bei den Erwachsenen führen die Medikamente zu einer Stabilisierung oder sogar zu einer leichten Verbesserung der Symptome», erläutert Christoph Neuwirth. In der Schweiz sind bislang drei Therapien zugelassen. Ein Medikament, das direkt in den Wirbelsäulenkanal injiziert wird sowie eine Trinklösung. «Beide Medikamente funktionieren ähnlich: Man verändert das SMNE-2-Gen, damit es stärker und stabiler wird. Dadurch können Kinder, die früher an SMA gestorben wären, wichtige motorische Fähigkeiten erlangen.» Die Injektion erfolgt alle vier Monate, die Trinklösung muss man täglich einnehmen.
Ein Meilenstein in der Behandlung von SMA ist eine neuartige Gentherapie. «Bei dieser wird das gesunde Ersatzgen mittels Viren in den Körper eingeschleust und in die Nervenzellen eingebaut. Auch für andere Erkrankungen kann dieses Verfahren wegweisend sein.» Am besten sollte die Behandlung vor den ersten Symptomen beginnen, da zu diesem Zeitpunkt noch alle Nervenzellen intakt sind. Aus diesem Grund wurde die spinale Muskelatrophie in der Schweiz ins Neugeborenen-Screening aufgenommen.
SMA bei Erwachsenen
Je nach Schweregrad der Krankheit sind zudem weitere begleitende Therapien nötig, etwa Physiotherapie, Logopädie oder die Unterstützung der Atmung durch eine Maskenbeatmung. Der Vorteil von Muskelzentren wie demjenigen am Kantonsspital St. Gallen sind unter anderem die interdisziplinären Teams, die aufgrund der zahlreichen Symptome gefragt sind. Ausserdem unterstützen spezialisierte Pflegefachkräfte die erwachsenen SMA-Betroffenen unter anderem bei Fragen zur Sozialversicherung, zum Hilfsmittelbedarf, zu pflegerischen Angeboten oder bei Möglichkeiten zur Entlastung der Angehörigen.
Ursula Schneider, Leiterin der Pflege am Muskelzentrum und Care Nurse, ist mit den Herausforderungen der SMA-Betroffenen täglich konfrontiert. «Erwachsene SMA-Patienten wünschen sich ein möglichst normales und selbstständiges Leben. Gerade erwachsene Patienten, die aus Altersgründen vom Kinderspital zu uns wechseln, möchten gerne allein oder in Wohngruppen leben. Diesen Wunsch mit der Realität zu vereinbaren, ist ein Prozess. Aber auch Bordsteine und unebene Wege sind einschränkende Hindernisse für die Rollstuhlfahrer.»
Muskelzentren sind für die Betroffenen und deren Angehörige eine wichtige Anlaufstelle. Doch die Betreuung von SMA-Betroffenen ist intensiv. «Wir kommen mit den vorgegebenen 30 Minuten an Beratungszeit nicht durch», sagt Neuwirth. «Der bürokratische Aufwand wird immer grösser, wodurch die Zeit bei der Betreuung der Patienten fehlt. Wir stehen vor Schwierigkeiten, die in Zukunft sicher noch herausfordernder werden.»