Wie beeinflusst die Datafizierung

unserer Gesundheit die Solidarität?

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Was passiert, wenn erfasste Gesundheitsdaten plötzlich aufzeigen, dass eine Person in Zukunft schwer erkrankt, sollte sie an ihrem Lebensstil nichts ändern? Sind wir dann noch bereit, solidarisch Krankenversicherungskosten zu tragen?

Photo: Piotr Piwowarski  www.fotopi.ch

Gemeinsam mit dem GDI hat die Sanitas Stiftung eine umfangreiche Studie zum Thema Datafizierung und Solidarität herausgegeben. Beim hybriden Event «Zukunftsmedizin: Verdrängt Datafizierung das solidarische Gesundheitssystem?» inklusive Panel-Diskussion wurden die Studienergebnisse am Donnerstag, 25. November 2021, präsentiert.

Jakub Samochowiec, Senior Researcher GDI (Gottlieb-Duttweiler-Institut), erklärte anhand seiner Studie «Entsolidarisiert die Smartwatch? Szenarien für ein datafiziertes Gesundheitssystem», dass die Datafizierung unserer Gesundheit sowie die damit einhergehende Möglichkeit der Kontrolle – sowohl intrinsisch als auch extrinsisch – die Solidarität in der Bevölkerung untergraben können. Als Beispiel nannte er die Corona-Pandemie, die die Welt seit knapp zwei Jahren in Atem hält. Wenn beispielsweise Personen durch technologische Vorhersagen wüssten, dass sie nie an Covid-19 erkrankten, warum sollten sie sich dann impfen?

Des Weiteren zeigte Samochowiec anhand von vier Extremszenarien auf, in welche Richtung sich das Gesundheitswesen entwickeln könnte und wie viel Solidarität darin verankert wäre.

  • Big Government: Wer ungesund lebt, wird durch den Staat zu einem gesunden Lebensstil gezwungen. Menschen, die gesund leben, werden hingegen belohnt – beispielsweise, indem sie Lebensmittel günstiger einkaufen können.
  • Big Business: Unternehmen gründen Peer-to-Peer-Versicherungen, die Menschen mit ähnlichen Risikoprofilen in Pools zusammenschliessen. Wer ungesund lebt, wird aus der Solidarität des Versicherungspools ausgeschlossen.
  • Big Self: Das Individuum kann sich durch die Datafizierung der eigenen Gesundheit selbst kontrollieren und regulieren. Der Staat fördert dabei gesundes Verhalten und hält Personen, die ungesund leben, dazu an, den eigenen Lebensstil zu überdenken.
  • Big Community: Gemeinschaften oder auch Netzwerke befähigen das Individuum zu gesundem Verhalten. Wer ungesund lebt, bleibt in der Gemeinschaft, denn er bereichert das Datenmodell. Hier wird die Vielfalt an Daten als Stärke angesehen.
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Und in welche Richtung bewegt sich die Schweiz? Klar ist, dass der Staat während der Pandemie an Wichtigkeit zugenommen hat. Das bestätigte auch Marcel Salathé, Assistenzprofessor und Leiter des Labors für digitale Epidemiologie an der ETH Lausanne, während der anschliessenden Panel-Diskussion: «Es gibt verschiedene Arten von Solidarität – unter anderem die freiwillige und die gesetzliche. Die Pandemie hat gezeigt, dass wir uns nicht bloss auf die freiwillige Solidarität verlassen können.»

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Nikola Biller-Andorno, Leiterin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Zürich, fügte an: «Während kurzfristiger Ereignisse – beispielsweise einer Pandemie – brauchen wir als Gesellschaft eine stärkere Regulation durch den Staat. Für langfristige Solidarität müssen wir jedoch das Wissen über Gesundheit fördern.» Felix Gutzwiller, Stiftungsratspräsident der Sanitas Stiftung, geht davon aus, dass wir um regulatorische Eingriffe durch den Staat nicht herumkommen werden. «In Zukunft werden viele Länder vermehrt zum Big-Government-Modell tendieren, die Schweiz mit ihren vielen Bürgerinitiativen eventuell in abgeschwächter Form. Selbstverantwortung wird weiterhin wichtig bleiben, doch die staatliche Regulation wird zunehmen.» Aber er ist sich auch sicher, dass «in Zukunft neue Netzwerk-Solidaritäten entstehen. Deswegen bin ich nicht nur pessimistisch.»

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Doch wie kann man Solidarität im Gesundheitswesen fördern? Funktioniert das überhaupt? Und welche Rolle spielen Krankenversicherungen hierbei? «Die soziale Grundversicherung in der Schweiz ist staatlich organisierte Solidarität – die persönliche Einstellung zu Solidarität spielt hier bloss eine zweitrangige Rolle – und das ist gut so. Zudem sind uns in der Grundversicherung stark die Hände gebunden, wenn es darum geht, Anreize zu einem gesunden Lebensstil zu schaffen. Ein gesunder Lebensstil darf zum Beispiel nicht durch Rabatte belohnt werden», so Felix Gutzwiller.

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Andréa Belliger, Professorin, Theologin und Unternehmerin, zeigte in ihrer Präsentation «Datenschutz ist etwas für Gesunde! Neue Wege im Umgang mit Gesundheitsdaten» weitere Möglichkeiten auf, wie Solidarität ohne Eingreifen durch den Staat funktionieren kann. Für sie ist klar: «Wenn wir über Zukunftsmedizin sprechen, kommen wir um Daten nicht herum. Aber: Die reine Datafizierung unserer Gesundheit führt zu einem Ende der Solidarität oder setzt die Solidarität, wie wir sie heute kennen, massiv unter Druck.» Ihre Lösung: digitale Transformation. Diese bietet als gesellschaftlicher Veränderungsprozess eine neue Basis für Solidarität. Dabei sieht sie vor allem die Bevölkerung selbst als aktiven Treiber.

«Wir bewegen uns weg von einzelnen Systemen hin zu Netzwerken. Denn diese setzen die Rahmenbedingungen, damit ein Wandel stattfinden kann.» Als Beispiele nennt die Professorin die Blue-Button-Bewegung oder die Organisation Open Notes. Patienten werden dazu befähigt, ihre eigenen Daten sowie die Notizen ihrer Ärzte selbst einsehen und so über die weiteren Schritte der Behandlung entscheiden zu können. Studien zeigten, dass so Arzt-Patienten-Beziehungen sowie das Vertrauen in die behandelnde Ärztin, den behandelnden Arzt gestärkt werden. «Blue Button und Open Notes lassen partizipative Medizin zu. Patienten sind nicht mehr bloss passive Empfänger, sondern aktive Kommunikationspartner», resümiert Andréa Belliger.

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Was passieren kann, wenn sich Patienten zu Netzwerken zusammenschliessen, zeigte Bastian Greshake Tzovaras, Fellow Researcher CRI, anhand seiner Studie «Verdatet & vernetzt: Wenn Patienten gemeinsam Forschung betreiben» auf. Der Zusammenschluss von Patientinnen und Patienten und die gemeinschaftliche Verdatung bezeichnete Tzovaras als Notwehr, da gewisse Krankheiten zu wenig Beachtung von der Forschung erhalten. Eines seiner Beispiele: Die Behandlung von Cluster-Kopfschmerzen, auch als Selbstmordkopfschmerzen bekannt. «Im Schnitt dauert es fünf Jahre, bis Patientinnen und Patienten die Diagnose Cluster-Kopfschmerz erhalten.»

Wenig befriedigend für Personen, die an den Kopfschmerzattacken, die schmerzhafter als Nierensteine sind, leiden. «Weltweit haben sich Betroffene zusammengetan, um Daten zu sammeln und die Kopfschmerzattacken zu tracken.» Durch die Datafizierung konnten die Patientinnen und Patienten herausfinden, dass die Sauerstofftherapie hilft, die Cluster-Kopfschmerzen zu lindern. Ebenfalls geholfen hat die Behandlung mit Magic Mushrooms (Pilzen). Weitere Ergebnisse waren so überzeugend, dass Forscher in den USA die Therapie mit Magic Mushrooms nun in klinische Studien aufgenommen haben. Bastian Greshake Tzovaras ist überzeugt: «Wenn Patienten und Akademiker gemeinsam forschen, profitieren beide Seiten davon. In Zukunft muss die Forschung die Patienten, die eigene Forschung betreiben, ernst nehmen.»

Fotos: Piotr Piwowarski