Junger Mann mit braunen Over-Ear-Kopfhörern macht ein schmerzverzerrtes Gesicht und hält dabei mit der rechten Hand den Kopfhörer weg von seinem Ohr.

Tinnitus: Ursache und Behandlung

Geräusche im Ohr? Erst einmal gilt: Keine Panik, denn Tinnitus ist keine Krankheit und in den allermeisten Fällen harmlos. Wann aber sollte man doch zum Arzt und wie lebt es sich besser mit dem Ton im Kopf?

Text: Katharina Rilling; Foto: iStock

Inhaltsverzeichnis

Es pfeift, klickt, brummt, summt oder zischt im Ohr? Solche Geräusche kennt fast jeder Mensch. Doch woran erkennt man einen Tinnitus? 

Was ist ein Tinnitus?

Der lateinische Begriff «Tinnitus aurium» (kurz Tinnitus) steht für Klingeln in den Ohren. «Es muss aber nicht immer ein Klingelton oder ein hoher Pfeifton sein, die man normalerweise mit einem Tinnitus in Verbindung bringt», sagt Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung, Leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich.

Tinnitus-Symptome: Geräusche im Ohr

Jedes Geräusch im Ohr oder im Kopf, das von keiner realen Geräuschquelle herrührt, wird pauschal als Tinnitus bezeichnet. «Wer aber Musik oder Stimmen hört, leidet an Halluzinationen. Das ist etwas anderes», erklärt Tobias Kleinjung. Manche Menschen mit Tinnitus können zusätzlich Schwindel empfinden oder sind zu Beginn geräuschempfindlich.

Wichtig aber ist: Tinnitus ist per se keine Krankheit. Vielmehr sind die Geräusche im Ohr ein Symptom – eine Begleiterscheinung zum Beispiel von altersbedingtem oder akutem Hörverlust – und weit verbreitet: «Mindestens 15 Prozent der Bevölkerung hören über einen längeren Zeitraum Ohrgeräusche. Je älter sie sind, desto mehr», sagt Kleinjung.

«Unter starken Beschwerden leiden allerdings nur etwa 1 Prozent.» Krank macht Tinnitus erst, wenn die Betroffenen wegen der Geräusche psychische Probleme oder Schlafstörungen entwickeln.

«Wer Musik oder Stimmen hört, leidet an Halluzinationen. Das ist etwas anderes.»
Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung, Leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich

Tinnitus: akut oder chronisch?

Ab drei Monaten bezeichnet man den Tinnitus nicht mehr als akut, sondern als chronisch. Der Fachmann ist mit dieser medizinischen Einteilung aber nicht glücklich: «Viele Menschen googeln ihre Symptome und haben dann sofort den Eindruck, chronisch bedeute, dass sie den Tinnitus nun für den Rest ihres Lebens hätten. Das muss aber überhaupt nicht so sein. Auch als chronisch definierte Ohrgeräusche können wieder verschwinden.» 

Die Panik der Betroffenen kann zu teilweise abstrusen Aktionen führen: «Sie hetzen dann von Arzt zu Ärztin, bestellen irgendwelche Tropfen im Internet oder probieren esoterische Behandlungen aus. Dabei ist die obsessive Beschäftigung mit dem Tinnitus kontraproduktiv», so der Spezialist.

Denn je mehr man sich mit der Sache beschäftigt, desto grösser ist die Gefahr, dass sich das Leid verstärkt. Viel besser ist es, das Ganze möglichst locker anzugehen und sich abzulenken, statt sich auf den fremden Ton zu fokussieren. 

Ursachen und Risikofaktoren

Doch woher kommen sie überhaupt, die störenden Geräusche im Ohr? Die grosse Mehrheit der Betroffenen leidet unter dem sogenannt subjektiven Tinnitus. Das heisst, dass nur die Person selbst den Ton hören kann.

«Man geht davon aus, dass in diesem Fall zu wenig Input vom Ohr ins Gehirn gelangt, weil das Gehör nachlässt oder beschädigt worden ist. Das Gehirn versucht dann gegenzusteuern, sich neu zu organisieren und sich durch die Vernetzung neuer Hirnareale anzupassen», erläutert der Fachmann. Bei den meisten Menschen passiert dies unmerklich.

Allerdings entsteht dann durch die Kompensation manchmal eine Daueraktivität im Hörzentrum des Gehirns, quasi eine Überkompensation, selbst wenn objektiv nichts zu hören ist. Diese kann als Tinnitus wahrgenommen werden.

Konkret: Im Alter verliert das Gehör den höheren Frequenzbereich meist zuerst. Weil das Gehirn dies kompensiert, sind beim Tinnitus daher oft auch höhere Pfeiftöne zu hören – aber eben nicht nur.

Es kann allerdings auch eine Kieferfehlstellung dahinterstecken. Das Mittelohr liegt nah am Kiefergelenk. Fehlerhafte «Inputs» aus dem Bewegungsapparat durch Zähneknirschen, Prothesen, eine Fehlstellung des Kiefers oder Verspannungen der Kau- und Nackenmuskulatur können zu Interferenzen mit dem zentralen Hörsystem führen. Ein Tinnitus kann die Folge sein.

Ein bestehender Tinnitus kann sich durch entsprechende Manipulation der Muskulatur zudem verändern. Auch bakterielle Infektionen (etwa eine Mittelohrentzündung) oder Tauchunfälle beeinträchtigen manchmal das Gehör, sodass es zu einem Tinnitus kommen kann.

«Das Einzige, was wir konkret tun können, ist tatsächlich, präventiv auf unsere Ohren aufzupassen.»
Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung, Leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich

Eine sehr kleine Gruppe der Betroffenen leidet hingegen an einem objektiven Tinnitus, der auf körperinterne Geräusche zurückzuführen ist – in der Regel von Muskeln oder Gefässen, weshalb diese Tinnitus-Form auch rhythmisch und nicht konstant klingt. Objektiv heisst er, weil diese Geräusche in manchen Fällen auch für andere Menschen hörbar sind, wenn sie mit ihrem Ohr ganz nahe an die Person herangehen.

Die gute Nachricht: Diese Art von Tinnitus ist direkt behandelbar, sobald man die Ursache für das Geräusch kennt. Bei Muskeln können es etwa unwillkürliche Zuckungen der Gaumenmuskulatur sein, die dann als Klick- oder Schnalzgeräusche im Ohr gehört werden. «Hier könnte man etwa mit der Injektion von Botox in die betroffene Muskulatur Abhilfe schaffen. Bei Veränderungen an Blutgefässen in Ohrennähe, die für Tinnitus verantwortlich gemacht werden können, gibt es in manchen Fällen chirurgische Behandlungsmöglichkeiten, die dann direkt zum Verschwinden des Tinnitus führen», weiss Kleinjung.

Da Tinnitus aber in den meisten Fällen nicht objektiv, sondern subjektiv und ein Versuch des Gehirns ist, den Hörverlust zu kompensieren, lautet die wichtigste Regel, um das Pfeifen, Zischen oder Brummen im Ohr zu verhindern: Hörschutz. «Das Einzige, was wir konkret tun können, ist tatsächlich, präventiv auf unsere Ohren aufzupassen», so Kleinjung. Immer dann, wenn es laut werde: an der Kreissäge, im Konzert oder im Fussballstadion. «Laute Geräusche machen das Gehör nachweisslich kaputt», so der Arzt.

Kann Stress Tinnitus verursachen?

Manche Menschen leiden aber auch ohne merkbaren Hörverlust an einem Tinnitus. Dann ist es sinnvoll, Stress zu reduzieren: «Wenn man diese Leute befragt, sagen sie häufig, dass sie in einer Lebensphase steckten, in der sie viel ‹um die Ohren› hätten; beruflich gefordert seien oder unter privaten Problemen litten», sagt Tobias Kleinjung.

Daher scheint es, dass Stress Ohrgeräusche auslösen kann. «Das macht Sinn, denn wir wissen, dass die Netzwerke für Stress, Emotionen, aber auch Gedächtnis und Aufmerksamkeit im Gehirn sich mit dem Hörzentrumsbereich verbinden können.» Zudem stört ein Tinnitus in einer stressigen Phase, in der man dünnhäutiger ist, vielleicht auch mehr.

«Tinnitus kann von allein weggehen. Und falls nicht, arrangieren sich die meisten Menschen sehr gut damit, sodass er kein Stressfaktor mehr ist.»
Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung, Leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich

Kann man Tinnitus heilen?

«Wenn wir ganz ehrlich sind, haben wir bis heute keine wirksame Therapie, die den subjektiven Tinnitus einfach zum Verschwinden bringt», sagt der Fachmann. «Wir können ihn nicht einmal bildlich nachweisen. Uns bleiben der Hörtest und die Befragung zur Diagnose.» Nur in Ausnahmefällen, meist wenn das eine Ohr weit besser funktioniert als das andere, wird ein MRI durchgeführt, um den Hörnerv zu untersuchen.

Tinnitus lässt sich also nicht im klassischen Sinn heilen. Und auch eine Wunderpille sieht der Arzt nicht am Horizont. Forschung findet derzeit immerhin im Bereich Neuromodulation statt. «Man versucht mit Elektro- und Magnetstimulation sowie Neurofeedback die Hirnaktivität zu normalisieren und den Tinnitus auf diese Art auszuschalten oder leiser zu machen», erläutert Kleinjung.

Diese Methoden sind aber noch nicht marktfähig. «Der Hersteller Lenire kombiniert eine Zungen- und Klangstimulation, mithilfe deren sich Menschen weniger auf den Tinnitus fokussieren sollen. Für mich ist es aber noch zu früh, diese Technologie allen Tinnitus-Patientinnen und -Patienten zu empfehlen.»

Kleinjung betont aber: «Tinnitus kann von allein weggehen. Und falls nicht, arrangieren sich die meisten Menschen sehr gut damit, sodass er kein Stressfaktor mehr ist.» Doch was konkret tun, falls ein Tinnitus auftritt? Kleinjung beruhigt: «Dann ist das kein Notfall.»

Geduld ist die beste Therapie

Nach ein bis zwei Wochen zuwarten ohne Besserung kann man langsam daran denken, einen HNO-Arzt aufzusuchen. «Manche haben Angst vor einem Gehirntumor oder einem Schlaganfall. Es macht aber keinen Sinn, vom Schlimmsten auszugehen. Nur in extrem seltenen Fällen tritt vorher ein Tinnitus auf.»

Er rät dazu, Ruhe zu bewahren – allerdings nur innerlich: «Bitte sich möglichst nicht in etwas reinsteigern. Am besten lenkt man sich mit anderen Geräuschen ab und sucht nicht die völlige Stille, um immer zu lauschen, ob der Tinnitus noch da ist.»

Eine Ausnahme gibt es aber: Wenn man feststellt, dass sich das Gehör massiv verschlechtert, sollte man zum Arzt gehen und dort innerhalb von drei bis vier Tagen einen Hörtest machen. «Einen Hörsturz behandelt man dann meist mit Cortison», so Kleinjung. «Das wird manchmal auch bei Tinnitus gemacht, ist aber sehr umstritten wegen der Nebenwirkungen und weil die Wirksamkeit nicht erwiesen ist. Ich bin da skeptisch.»

Hat der Arzt über Tinnitus aufgeklärt und die Betroffenen im besten Fall beruhigt, wird zugewartet. Dabei hilft es, ablenkende Geräusche einzusetzen: «Das müssen keine bestimmten Frequenzen sein, sondern kann irgendetwas sein, das den Betroffenen guttut: beispielsweise Musik, Rauschen aus einer App, Geräusche, die durchs offene Fenster kommen, ein Zimmerspringbrunnen, ein Geräuschkissen zum Einschlafen oder ein Podcast.» Spezielle Tinnitus-Hörgeräte, die gewissen Töne ins Ohr senden, sind heute veraltet und werden in Zeiten von Smartphones mit Geräusch-Apps, Streamingdiensten & Co. nicht mehr gebraucht.

Psychologische Betreuung bei zu hohem Leidensdruck

Leiden die Tinnitus-Betroffenen weiter, können sie etwa nicht einschlafen, werden sie in ihrer Konzentration gestört oder bekommen sie Panikattacken, sollte die Zusammenarbeit mit psychiatrischen oder psychologischen Fachkolleginnen oder -kollegen gesucht werden. «Hier können dann zum einen schlaf-, angst- oder depressionsregulierende Medikamente verschrieben und/oder eine kognitive Verhaltenstherapie gestartet werden. Dabei geht es darum, Strategien zu finden, die helfen, sich mit den Geräuschen abzufinden und sich wieder entspannen zu können», weiss Kleinjung.

Tinnitus-Behandlung mit Hausmitteln und Akupunktur?

«Für die Wirkung von Hausmitteln und Akupunktur gibt es keine wissenschaftliche Evidenz», so der Arzt. «Was nicht heisst, dass sie Einzelnen nicht guttun können. Am besten einfach in vernünftigem Mass ausprobieren.» 

Vor allem Begleiterscheinungen wie Unruhe, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen könnten durch Akupunktur gelindert werden. «Im Zweifelsfall plädiere ich aber wie gesagt für ‹weniger ist mehr›», sagt Kleinjung. Will heissen: Schenken Sie dem Tinnitus möglichst wenig Aufmerksamkeit!

Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung ist leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich.

Über den Experten

Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung ist Leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich. Zu seinen Spezialgebieten zählen unter anderem die Diagnostik und Behandlung von Tinnitus und Hörstörungen.

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