So vermeiden Sie unnötige medizinische Eingriffe

Es ist nicht alles sinnvoll, was machbar ist – dies gilt auch für medizinische Abklärungen und Behandlungen. Was Sie als Patientin tun können, um unnötige Eingriffe zu vermeiden, erklärt Ihnen Sanacare Experte Dr. med. Marc Jungi.

Text: Kathrin Reimann; Foto: Sanitas

Ob Eiseninfusion, Röntgenuntersuchung, Gelenkersatz oder Antibiotikaverschreibung – Schätzungen zufolge sind in der Schweiz über 20 Prozent der durchgeführten medizinischen Massnahmen überflüssig. Dies verursacht einerseits unnötige Kosten zulasten von Patientinnen und Patienten und der Allgemeinheit, andererseits löst es Verunsicherung bei Betroffenen aus und kann im schlimmsten Fall zu unerwünschten Nebenwirkungen oder Komplikationen führen. 

Der gemeinnützige Verein «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» verfolgt das Ziel, dass medizinische Massnahmen nur dann zur Anwendung kommen, wenn sie tatsächlich etwas bringen. Dafür fördert der Verein die Diskussion und die Forschung zu unnötigen Behandlungen und stellt Informationsmaterial zur Verfügung. Für den stellvertretenden Geschäftsführer von Sanacare und Fachleiter Medizin Marc Jungi, der auch als Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH in der Sanacare Gruppenpraxis Bern arbeitet, ist das Thema in seinem Alltag als Hausarzt präsent: «Für uns hat es oberste Priorität, für unsere Patientinnen und Patienten die optimale und den individuellen Bedürfnissen angepasste medizinische Leistung zu erbringen.» Deshalb werde an Ärztesitzungen oder mittels Newsletter über neuste medizinische Erkenntnisse – auch des Vereins «smarter medicine» – informiert, und ausgewählte Handlungsfelder kämen in den ärztlichen Qualitätszirkeln regelmässig zur Sprache. «Auch potenziell überflüssige Massnahmen werden in diesem Rahmen in allen Sanacare Praxen angesprochen und punktuell überprüft.»

Zeitdruck und fehlende Geduld

Dass es dennoch zu überflüssigen Massnahmen kommt, ist für Jungi auch ein Problem unserer schnelllebigen Zeit. «Die Konsultationszeit ist kurz. Häufig müssen Ärztinnen Entscheidungen innerhalb weniger Minuten treffen. Da kann die Zeit auch mal fehlen, um aktuelle Handlungsleitlinien nachzuschlagen.» Zudem sei es immer schwieriger und zeitraubender, den Patientinnen und Patienten zu erklären, warum eine von ihnen erwartete Behandlung oder Abklärung eben nicht durchgeführt werden sollte. Auch seitens der Patientinnen und Patienten bestehe Druck: Betroffene müssen schnell wieder funktionieren. Das führt zu Verschreibungen, für die keine klare Indikation besteht. Oder es wird dem Druck einer Überweisung an Fachärzte nachgegeben. «Und manchmal fehlt Patientinnen und Patienten auch einfach die Geduld: Anstatt bei Knieschmerzen einige Tage abzuwarten, das Knie zu kühlen, zu salben, zu schonen und zu schauen, ob es nicht besser wird, drängen manche direkt auf weitere Abklärungen – etwa um herauszufinden, ob der Meniskus schuld ist.» Dies, obwohl weitere Untersuchungen auch einige Tage später durchgeführt werden könnten. «Das verursacht unnötige Kosten und führt – wie in diesem Beispiel – zu einer schädlichen Strahlenbelastung.»

«Es ist wichtig, Betroffene über die Vor- und Nachteile von Möglichkeiten zu informieren und in eine gemeinsame Entscheidung miteinzubeziehen.»
Marc Jungi, Stv. Geschäftsführer Sanacare und Fachleiter Medizin

Gemeinsame Entscheidungen treffen

Für Marc Jungi ist klar: Das Gespräch mit den Patientinnen und Patienten ist essenziell, um unnötige medizinische Interventionen zu vermeiden. «Natürlich obliegt mir als Hausarzt die Hauptverantwortung. Aber es ist wichtig, Betroffene über die Vor- und Nachteile von Möglichkeiten zu informieren, sie zu sensibilisieren, zu unterstützen und in eine gemeinsame Entscheidung miteinzubeziehen.» Das vom Verein «smarter medicine» zur Verfügung gestellte Material erachtet er dabei als hilfreich. «In unserer Praxis hat es in der Wartezone Bildschirme, die auf die Kampagne hinweisen.» Zudem findet man auf der Website Informationsmaterial, beispielsweise fünf Fragen, die man sich von Ärztinnen und Ärzten beantworten lassen sollte, um richtige Entscheide zu treffen. Zudem veröffentlicht der Verein regelmässig Top-5-Listen mit medizinischen Massnahmen, die oft überflüssig sind. 

Choosing Wisely: Top-5-Listen

2011 lancierten Ärztinnen und Ärzte die Choosing Wisely-Initiative. Ihr Ziel: mehr Offenheit und Diskussion zwischen Ärzteschaft, Behandelten und der Öffentlichkeit. Kernstück von Choosing Wisely sind «Top-5-Listen» jeder klinischen Fachdisziplin. Sie enthalten je fünf medizinische Massnahmen, die meist unnötig sind. 

Keine Abklärungen und Eingriffe ohne Grund

Welche Therapien wann überflüssig sind, ist für den Sanacare Experten eine situative Frage: «Dem 60-jährigen Krebspatienten im Endstadium würde ich keine Knieprothese empfehlen, einer rüstigen 80-Jährigen hingegen schon. Oder eine Augenoperation bei beginnender Linsentrübung wird oft erst nötig, wenn man effektiv eingeschränkt ist.» Von einem 20-Jährigen, der seine Praxis für einen Check-up aufsucht, würde er wissen wollen, was dieser denn darunter verstehe. «Für Menschen in diesem Alter gibt es normalerweise keinen Grund für eine Blutentnahme.» Ein Gespräch über Risikoverhalten bezüglich Sucht und sexueller Aktivität oder über Impfungen sei in diesem Fall angemessener. «Denn für jede therapeutische oder diagnostische Massnahme braucht es auch einen Grund», so Jungi.

Ganz grundsätzlich rät er Patientinnen und Patienten dazu, die Risiken und den Nutzen von Abklärungen und Behandlungen zusammen mit dem Hausarzt gut abzuwägen. Eine gute Beziehung zu den Hausärztinnen und -ärzten hilft, um im Gesundheitswesen-Dschungel die Orientierung zu behalten. «Schaffen Sie eine Vertrauensbasis, bereiten Sie sich auf Ihre Arzttermine vor und fordern Sie alle Informationen ein, damit Sie sich mit der gemeinsamen Entscheidung wohlfühlen», rät der Experte. Denn wer keine Hausärztin habe und sich jeweils auf Notfallstationen begebe, laufe Gefahr, dass dort nur das akute Problem behandelt und die Gesamtsituation des Patienten nicht berücksichtigt werde. «Und falls Sie unsicher sein sollten: Holen Sie sich eine Zweitmeinung ein – nicht alles, was machbar ist, ist auch sinnvoll.»

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