Dossier: Sexualität

Sexsucht: Wenn Sex krank macht

Bei einer Sexsucht gerät das sexuelle Verhalten ausser Kontrolle: Darunter leiden nicht nur Psyche und Gesundheit, eine Sexsucht kann auch das Privat- und Berufsleben von Betroffenen gefährden. Wie sich eine Sexsucht im Alltag äussert und welche Wege aus der Sexsucht führen: Ein Betroffener und ein Sexologe geben Auskunft.

Text: Katharina Reimann; Foto: iStock

«Seit meiner Jugend kreisten meine Gedanken permanent um Sex», sagt der ehemalige Sexsucht-Betroffene Max*. Um den Druck zu lindern, schaffte er sich ständig Zeitfenster, um auf Pornoseiten zu surfen, sich selbst zu befriedigen oder Bordelle zu besuchen. Dadurch isolierte er sich schleichend, verlor nach und nach den Bezug zu seinem sozialen Umfeld und hatte zunehmend das Gefühl, dass ihm die Kontrolle über sein Leben entgleite. «Als die Sucht meine Beziehung zu zerstören drohte, entschied ich mich zu einer Therapie», sagt er über seinen Entschluss, Hilfe zu holen.

Sexsucht hat viele Gesichter. Erst 2022 hat die Weltgesundheitsorganisation «zwanghaftes Sexualverhalten» als psychische Störung anerkannt und in ihren Krankheitskatalog aufgenommen. Per Definition ist bei einer Sexsucht der Wunsch nach sexueller Befriedigung so gross, dass Betroffene mehr und mehr davon absorbiert werden und vieles andere vernachlässigen.

Und während sich Betroffene zunehmend weniger befriedigt fühlen, wird das Verlangen nach Sex – in jeglicher Form – immer stärker. Im Gegensatz zu Alkohol führt Sex aber nicht zu körperlichen Entzugssymptomen. Je nach Ausprägung ähnelt eine Sexsucht daher eher einem Zwangsverhalten als einer Abhängigkeit, weshalb für diese psychische Störung häufig auch der Begriff «Hypersexualität» verwendet wird.

Betroffene fühlen sich durch Sexsucht fremdgesteuert

Für Paarberater und Sexologe Martin Bachmann ist klar: «Von einer Sexsucht gehe ich dann aus, wenn Patienten und Patientinnen sich selbst als sexsüchtig beschreiben.» Bei Betroffenen überwiege der Leidensdruck, sie schämten sich, fühlten sich fremdgesteuert und ihre sexuellen Handlungen geschähen zwang- oder dranghaft.

«Ein Indiz für eine Sexsucht ist, dass Betroffene wichtige Termine, etwa eine Familienfeier, verpassen, übermüdet sind – etwa weil sie die ganze Nacht Pornografie konsumieren – und so ihren beruflichen oder familiären Pflichten nicht mehr nachkommen können.» Ein weiteres Zeichen könne sein, dass Sexsüchtige zur Befriedigung ihrer Lust immer krassere Kicks brauchen und so in verbotene Pornografiebereiche abrutschen. Dazu zählen gemäss dem Nationalen Zentrum für Cybersicherheit (NZSC) pornografische Darstellungen mit Kindern, Tieren und Gewalttätigkeiten.

«Meist suchen sich Betroffene erst Hilfe, wenn es zu spät ist.»
Martin Bachmann, Paarberater und Sexologe

Wenn Moralvorstellungen auf eine ausgeprägte, gesunde Sexualität treffen

Da beim Thema Sex immer auch die Moral mitschwingt, landen mitunter Personen in Bachmanns Praxis, die zwar glauben, an einer Sexsucht zu leiden, mit dieser Einschätzung aber danebenliegen. «Ich habe Patienten und Patientinnen, die zweimal im Monat Pornografie konsumieren und sich für sexsüchtig halten, weil sie ihr Handeln nicht mit ihren Moralvorstellungen in Einklang bringen.» Denn eine stark ausgeprägte Sexualität ist nicht automatisch mit einer Sexsucht gleichzusetzen. «Wer dreimal am Tag Sex hat oder täglich während zweier Stunden Pornografie konsumiert, dies geniesst und sein Berufs- und Privatleben unter einen Hut bringt, ist nicht sexsüchtig.» 

Nichtsdestotrotz: Genau diese moralische Komponente hält viele Betroffene davon ab, sich Hilfe zu holen. Gemäss Bachmann kann man bei der männlichen Bevölkerung davon ausgehen, dass aktuell etwa 5 Prozent der Schweizer von Sexsucht betroffen sind. «Die Dunkelziffer ist aber hoch», sagt der Sexologe. «Meist suchen sich Betroffene erst Hilfe, wenn es zu spät ist.»

Zu spät bedeutet, dass bereits weitere Probleme vorliegen: Eine unbehandelte Sexsucht kann aufgrund von Schuld- und Schamgefühlen zu Depressionen führen, auch können Angst- und Panikattacken auftreten. Das zwanghafte Verhalten Sexsüchtiger kann zudem zu Schlafstörungen, Halluzinationen, Selbstverletzungen im Genitalbereich, Geschlechtskrankheiten und Dauermüdigkeit führen. Auch familiäre Probleme, Einsamkeit oder Bindungsschwierigkeiten können Folgen sein. Und nicht zuletzt können Sexsüchtige von Konsequenzen wie Jobverlust, finanziellen Problemen oder strafrechtlichen Konsequenzen – etwa wegen des Konsums verbotener Pornografie – betroffen sein.

Sexsucht ist eher ein Männerthema

Frauen suchen sexualtherapeutische Praxen deutlich weniger wegen einer Sexsucht auf. «Es ist ein Männerthema, denn entsprechend dem Geschlechterstereotyp ist es nach wie vor so, dass Männer und Frauen Sexualität unterschiedlich nutzen. Männer brauchen Sexualität deutlich häufiger zur Emotionsregulation», sagt Bachmann.

So erging es auch Max*. Mithilfe seiner Sexsucht floh er vor unangenehmen Emotionen wie Anspannung, Unsicherheit oder Problemen in seiner Beziehung – ohne langfristigen Erfolg: «Für mich war Sex kein Genuss mehr, meine Sexsucht machte mein Leben zur Hölle.» Er habe sich aufgrund seines zwanghaften Verhaltens vor sich selbst geekelt. Zudem habe ihm das ewige Versteckspiel vor seiner Partnerin die Kräfte geraubt und seinen privaten sowie beruflichen Alltag zum Spiessrutenlauf gemacht. Der einzige Ausweg: der Gang zum Therapeuten.

Harmonisierung von Emotionen und Sexualität

«Ziel einer Sexsucht-Therapie ist es, lust- und genussvollere sowie nachhaltigere Varianten des sexuellen Erlebnisses und Alternativen zur Selbstregulation zu entwickeln und zu kultivieren», sagt Bachmann. Konkret bedeute das für den Patienten, herauszufinden, was ihm besser tun würde als eine sexuelle Handlung.

«Wenn beispielsweise ein Manager zwölf Stunden im Büro sitzt und seinen Bewegungsdrang danach in einem Bordellbesuch ausleben möchte, versuchen wir ihm durch eine sportliche Tätigkeit den Drang nach Sex zu nehmen.» Eine Änderung des sexuellen Verhaltens könne nur nachhaltig wirksam sein, wenn ein spürbarer Mehrwert im neuen Verhaltensmuster erkannt werde. «Ziel ist es, eine langfristige Harmonisierung von Emotionalität und Sexualität zu erreichen.» Die Therapie erfolgt vorwiegend in Einzelberatungen. «Gruppentherapien sind aufgrund des schambehafteten Themas nicht sehr verbreitet», so der Sexologe. Auch stationäre Behandlungen und Medikamente kämen nur in Einzelfällen zum Einsatz.

Für Bachmann steht fest, die Sexsucht ist auf dem Vormarsch: «Pornografie ist jederzeit und überall verfügbar.» Um der Sexsucht präventiv entgegenzutreten, plädiert der Sexologe für eine Sexualaufklärung, die über funktional-biologische Aspekte hinausgeht: «Sex ist so etwas Schönes und Wichtiges – es lohnt sich, diesem Thema mehr Raum zu geben und sich damit auseinanderzusetzen.»

 

*Name von der Redaktion geändert

Teilen