Dossier: Gesundes Gehirn

Die Macht der Musik

Ein Lied singen, ein Instrument spielen oder Musik hören kann im Gehirn viel bewirken. Das macht sich die Musiktherapie zunutze und hilft damit Menschen mit physischen sowie psychischen Erkrankungen.

Text: Nicole Krättli; Foto: iStock

Kennen Sie diesen Moment: Sie hören ein Lied, vielleicht sogar nur einige wenige Akkorde, und schon reisen Sie durch Raum und Zeit? Plötzlich sitzen Sie im Restaurant, in dem Sie Ihren Partner das erste Mal getroffen haben. Oder Sie liegen am Strand in Portugal, wo vor 15 Jahren dasselbe Stück rauf- und runtergespielt wurde. Plötzlich sind Sie wieder in Ihren Teenagerjahren angekommen, während deren Sie selbstvergessen Backstreet-Boys-Songs geträllert haben.

Wenn Klänge als Schwingungen in der Luft das Ohr erreichen, die Hörnerven diese Klänge als elektrische Impulse ans Gehirn weiterleiten und die Grosshirnrinde sie mit einem Netzwerk aus Erinnerungsspuren verknüpft, passiert etwas ganz Aussergewöhnliches: Wir werden dem Alltag entrückt und sind plötzlich weit weg und doch ganz bei uns selbst.

Gehirne von Musiker:innen funktionieren anders

Wie wir auf Musik reagieren, habe stark mit unserer Hörerfahrung zu tun, sagt Beate Roelcke, Co-Leiterin des Studiengangs Klinische Musiktherapie an der Zürcher Hochschule der Künste. Obschon es den individuellen Erfahrungen geschuldet ist, ob ein Stück der Backstreet Boys, des Trio Eugster oder von Abba Emotionen in einem auslöst, gibt es einige universelle Wahrheiten. «Langsame Rhythmen und das Hören der Obertöne haben eine beruhigende Wirkung», weiss Roelcke. Die Musik schafft es, den Blutdruck und den Spiegel des Stresshormons Cortisol zu senken.

Noch stärker ist der Effekt auf den Körper, wenn wir selber musizieren. So konnten Neurowissenschaftler:innen der Universität Zürich in einer Studie nachweisen, dass Berufsmusiker:innen über ein besseres Arbeitsgedächtnis verfügen als Nichtmusiker:innen. Bei den Musiker:innen waren die Hörareale beider Hirnhälften stärker miteinander verbunden als bei Nichtmusiker:innen. Doch der Effekt geht noch weiter. «Musik aktiviert gleichzeitig verschiedenste Gehirnregionen. Auch bei Nichtmusiker:innen können sich Gehirnstrukturen neu organisieren und verändern, wenn sie musizieren oder Musik hören», erklärt Roelcke.

Das macht sich die Musiktherapie zunutze – beispielsweise bei Schlaganfallpatient:innen, die halbseitig gelähmt und damit motorisch eingeschränkt sind. «Rhythmus hat Einfluss auf unsere Bewegungen und erleichtert deren Ausführung», so die Musiktherapeutin. Hinzu kommt, dass sich verschiedene Instrumente wie etwa ein Xylofon oder ein Klavier auch einhändig spielen lassen und sich Patient:innen auf diese Weise ausdrücken können. «In der Musiktherapie ist es möglich, sich ohne Leistungsdruck auf das zu fokussieren, was als Ressource genutzt werden kann», weiss Expertin Roelcke. 

«Rhythmus hat Einfluss auf unsere Bewegungen und erleichtert deren Ausführung.»
Beate Roelcke, Musiktherapeutin

«Vogellisi» sorgt für Erfolgserlebnis

Welch positiven Effekt das Üben von Bewegungsabläufen mithilfe von Instrumenten haben kann, hat eine Untersuchung mit Schlaganfallpatient:innen gezeigt. So konnte die Gruppe, die eine Musiktherapie besucht hatte, motorisch grössere Fortschritte erzielen als jene, die dieselben Übungen ohne Musik absolviert hatte. Das Spielen wirkt auch auf der emotionalen Ebene: «Einen Rhythmus wählen, eine Melodie erfinden, die Freude daran, die Klänge zu hören – all das führt zu einem besseren Selbstwertgefühl», sagt die Musiktherapeutin.

Besonders eindrücklich zeigt sich die Macht der Musik bei Schlaganfallpatient:innen, deren Sprachzentrum geschädigt worden ist. Diese Menschen wissen zwar vielfach, was sie sagen möchten, können die Wörter aber nicht mehr aussprechen. In der Folge bringen viele von ihnen nur noch einzelne Silben über die Lippen oder geben das Sprechen gänzlich auf.

Diesen Patient:innen schlägt Roelcke jeweils vor, gemeinsam Lieder zu singen. Wichtig ist: Es muss ein Lied gefunden werden, das sie relativ früh – schon in ihrer Kindheit oder Jugend – gelernt haben und in- und auswendig können. «Bei älteren Patient:innen versuche ich es häufig mit dem ‹Vogellisi› oder dem ‹Buurebüebli›.»

Und plötzlich fliessen die Wörter. Das liegt daran, dass der Liedtext in Verbindung mit der Melodie im Gehirn an einem anderen Ort gespeichert ist als die Sprache. Durch Übungen wie diese entwickeln sich nicht nur neue Verbindungen im Gehirn, sagt Beate Roelcke: «Sie geben den Menschen auch ein unglaubliches Erfolgserlebnis. Sie merken plötzlich: Ich kann ja doch was, es geht ja doch noch.» 

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