Dossier: Sexualität

Asexualität: ein glückliches Leben ganz ohne Sex

Asexuelle Menschen haben keinerlei Interesse an sexueller Interaktion. Lange galt das als abnormal. Dabei ist es nichts anderes als eine Ausprägung unter vielen, sagen Experten.

Autorin: Anna Miller; Foto: iStock

Keine Lust auf Sex: Dieses Gefühl kennen wir alle. Weil wir müde sind, schlechte Erfahrungen gemacht haben, die Partnerschaft aus dem Lot ist, wir gesundheitlich angeschlagen sind … Gründe für temporäre Lustlosigkeit gibt es viele. Doch bei manchen Menschen ist die sexuelle Lustlosigkeit von Dauer. Oder die Lust an Fellatio, Küssen oder Geschlechtsverkehr war nie wirklich da. Fehlt einem Menschen die Lust auf sexuelle Interaktion, spricht man von Asexualität. Kurz gesagt: Ich habe keine Lust auf dich. Und mir fehlt dabei nichts.

Asexuell ist, wer sich selbst so definiert

Laut offizieller Definition ist asexuell, wer sich selbst so definiert. Aber wie erkenne ich, ob ich asexuell bin? Ein Kriterium ist, dass das Verlangen nach Sexualität und die sexuelle Anziehung sehr schwach ausgeprägt oder schlicht nicht vorhanden sind. Bei vielen Asexuellen ist diese fehlende Lust auf sexuelle Interaktion eine Konstante. Etwas, das schon immer so war und sich über die Jahre auch nicht verändert – unabhängig von der Person, mit der man zusammen ist. Das heisst aber nicht, dass eine asexuelle Person grundsätzlich keine sexuelle Erregung empfinden kann – sie möchte diese Erregung bloss nicht mit einem Gegenüber ausleben oder empfindet Erregung mit sich selbst, aber nicht in der Interaktion. Asexualität hat viele Gesichter.

Asexualität ist keine Störung

Dabei liegt weder eine Funktionsstörung auf körperlicher noch auf psychischer Ebene vor – im Gegensatz zu Libidostörungen, die bei vielen Menschen auftreten können und auch behandelt werden. «Hat ein Mensch grundsätzlich Lust auf Sex, verliert diese dann aber und leidet darunter, sprechen wir in der Fachsprache von einer Appetenzstörung», sagt Nadia Lehnhard, Fachperson Sexuelle Gesundheit bei Sexuelle Gesundheit Schweiz. «Asexualität gehört nicht in diese Kategorie.»

Nicht bloss weil keine Störung vorliege, sondern vor allem auch, weil in der Psychologie als behandlungsbedürftig gelte, was Leidensdruck bei Betroffenen erzeuge. Im Gegensatz zu Menschen, die normalerweise Lust auf Sex verspüren und diese dann verlieren, leiden Asexuelle aber nicht unter der Situation. «Asexuelle Menschen sind mit der Tatsache, dass sie keine Lust auf Sex haben oder keine sexuelle Anziehung verspüren, in der grossen Mehrheit sehr zufrieden. Weil sie nichts davon vermissen», sagt Lehnhard. Deshalb brauchen sie auch keine Behandlung.

Viel Unverständnis vom Umfeld

Genau das ist es aber, was die Umwelt stutzen lässt. Menschen, die nicht asexuell sind, können oft nicht verstehen, dass ein Leben ohne die «schönste Nebensache der Welt» überhaupt lebenswert, schön und befriedigend sein kann. Weil gesellschaftlich ein noch immer zumeist heterosexuelles Narrativ dazu vorherrscht, was als lebenswert gilt: eine primäre, enge Bindung, in den meisten Fällen eine Bindung zwischen Mann und Frau, eine, die von sexueller Nähe geprägt ist, und eine, die in vielen Fällen Kinder hervorbringt. Irgendwann, meist zu Beginn der Pubertät, wird der Schulhof für viele Menschen zum ersten Ort, an dem sie diese Anziehung spüren – sie verknallen sich, plötzlich wird das Mädchen von nebenan attraktiv, wollen sich alle küssen, berühren, miteinander körperlich werden.

Schaut man sich in Foren um, in denen sich Asexuelle austauschen, oder liest man Artikel zum Thema, dringen immer ähnliche Geschichten durch: Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, haben eine andere Biografie. Sie erzählen von genau diesen Momenten als Momente, die ihnen nichts bedeuteten. Dass sie in der Schule keine Antwort wussten auf die Frage, auf wen sie stehen. Oder dass sie keine Lust darauf hatten, mit Zunge zu küssen, und sich fragten: Wozu überhaupt? Dass sich ihre Welt keine Minute um sexuelle Fragen dreht, um Fragen der Anziehung, und sie lieber über anderes sprechen, während die halbe Welt um sie herum offenbar kein anderes Thema zu kennen scheint. 

«Es sind alle anderen, die ihre Lustlosigkeit zum Dauerthema machen – und so dazu beitragen, dass Asexuelle sich ständig fragen müssen: Was stimmt nicht mit mir?»
Nadia Lehnhard, Fachperson Sexuelle Gesundheit bei Sexuelle Gesundheit Schweiz

Das ist es dann auch, was bei Asexuellen zu psychischen Problemen führen kann: dieses ständige Anderssein. Die Fragen danach, ob sie denn nun endlich eine:n Freund:in hätten. Der Umstand, sich ständig erklären zu müssen. «Das grösste Problem ist eigentlich, dass Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, mit ihrer Situation absolut im Reinen sind, weil sie nichts vermissen. Es sind alle anderen, die ihre Lustlosigkeit zum Dauerthema machen – und so dazu beitragen, dass Asexuelle sich ständig fragen müssen: Was stimmt nicht mit mir?», sagt Lehnhard.

Dies nicht zuletzt deshalb, weil Asexualität noch kaum ein Thema ist. Es gibt weltweit noch kaum Zahlen zum Phänomen. Erst 2008 wurde die erste internationale Studie zum Thema durchgeführt. Darin gaben rund 1 Prozent der Befragten an, keinerlei Interesse an sexuellem Austausch zu haben. Es waren deutlich mehr Frauen als Männer. In der Schweiz gibt es keine offiziellen Zahlen. Viele Asexuelle berichten denn auch von einem Aha-Moment, von irgendeinem Blogpost, einem Video, einem Beitrag, über den sie gestolpert sind. Und sich darin wiedererkannt haben: in den Schilderungen davon, dass einfach kein Interesse am Thema Sex besteht. Wie sich das anfühlt. Viele sagen: Es fühlt sich an wie: nichts. 

Die Ursachen für Asexualität sind unklar

Dieses Nichts blieb denn auch über Jahrhunderte unangetastet in Forschung und Diskurs, auch wenn die ersten Schilderungen von Menschen, die keine Lust aufs Gegenüber empfinden, aus früheren Jahrhunderten stammen. Bis vor ein paar Jahren ergab die Suche nach «Asexualität» auf Google als Treffer einzig Bilder von Amöben, weil Asexualität unter diesem Begriff ein Phänomen aus der Tierwelt war. Die Ursachen von Asexualität? Unklar. «Angeborene Asexualität gibt es nicht, jeder hat eine festgelegte genetische Identität. Was sich im Laufe des Lebens aber ändern kann, sind die hormonelle Ausrichtung und die sexuelle Orientierung», sagte Elke Krause, Leiterin des gynäkologischen Ambulatoriums am Inselspital Bern, gegenüber SRF. Es sei aber gut möglich, dass die Orientierung sich in Richtung Asexualität entwickle und sich eine Person nicht für Sex interessiere.

Mittlerweile trägt vor allem das Internet dazu bei, dass sich Asexuelle untereinander vernetzen können, Aufklärung betrieben wird, das Thema vermehrt in die Medien kommt und sich auch Vereine und vor allem die queere Community für mehr Sichtbarkeit und Aufklärung einsetzen. So wird Asexualität mittlerweile unter dem Buchstaben A im Akronym LGBTQIA+ aufgeführt. Viele Asexuelle finden in der queeren Community eine neue Heimat, weil klassische Rollenbilder in dieser eher hinterfragt werden und Sexualität eher als Spektrum möglicher Ausprägungen gesehen wird. 

Viele Asexuelle führen tragfähige Beziehungen

Wer kein Interesse an sexueller Interaktion hat, dem wird schnell einmal unterstellt, dass er ganz generell kein Interesse an Menschen, Beziehungen oder Freundschaften habe. In vielen Köpfen gehört das eine zum anderen. Doch viele Asexuelle haben Bindungen, empfinden Liebe, Wärme und Zuneigung für Familie und Freund:innen. Einige von ihnen mögen Selbstbefriedigung, empfinden auch sexuelle Lust, rein körperlich.

Auch eine romantische Beziehung ist mit einer asexuellen Person möglich. Asexualität kommt in vielen Formen. Es gibt aber auch asexuelle Personen, die aromantisch sind, also keinerlei romantische Gefühle empfinden. Doch nicht jede Person, die asexuell ist, ist auch aromantisch – und umgekehrt.

«Auch Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, können romantische Beziehungen führen.»
Nadia Lehnhard, Fachperson Sexuelle Gesundheit bei Sexuelle Gesundheit Schweiz

Asexualität in der Partnerschaft: Reden hilft

Wie aber geht man in einer Partnerschaft mit Asexualität um? Wichtig ist gemäss Lehnhard vor allem, dass man seine Körperempfindungen ernst nimmt, sich informiert, mit dem Gegenüber ins Gespräch kommt. Und dass beide Parteien ehrlich und offen ihre Bedürfnisse kommunizieren. Denn Lust auf Sex und keine Lust auf Sex sind gleichwertige Bedürfnisse, sagt Lehnhard. Und fügt an: «Auch Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, können romantische Beziehungen führen.» Diese können platonisch sein, müssen aber nicht. «Beziehungen können ganz unterschiedlich gelebt werden. Es gibt viele Gründe für Sex, nicht nur die blosse Lust.» Auch ein Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit oder schlicht körperliche Entspannung können Anreize sein, körperlich intim zu werden.

Asexualität ist also so facettenreich wie wir Individuen. «Wir können viel von unterschiedlichen Lebens- und Beziehungsformen lernen», findet Lehnhard. Weil man sexuelle Interaktion und Nähe sowieso aushandeln muss. In den meisten Beziehungen sind die Bedürfnisse nicht ganz deckungsgleich und man muss miteinander ins Gespräch kommen, seine Bedürfnisse mitteilen, Grenzen setzen. «Eine Beziehungsform, in der Menschen ihre Rolle neu definieren müssen, kann auch eine grosse Chance sein, diese Rolle zu hinterfragen. Und sie kann uns alle neugieriger und offener für unsere eigenen Bedürfnisse und die des Gegenübers machen.»

Über die Expertin

Nadia Lehnhard ist Fachperson Sexuelle Gesundheit bei Sexuelle Gesundheit Schweiz, der Schweizer Dachorganisation aller Fachstellen zu sexueller Gesundheit. Mehr Infos für Interessierte bietet beispielsweise der Verein Aromantisches und Asexuelles Spektrum Schweiz, AroAce.

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