Gibt es das Mörder-Gen?

Was entscheidet darüber, ob ein Mensch sein Leben im Griff hat oder ob es ihm entgleitet? Extremfälle können Antworten auf diese Frage liefern. Der forensische Psychologe Prof. Dr. Jérôme Endrass erforscht, warum Menschen zu Mördern werden.

Interview: Paul Drzimalla; Foto Sebastian Magnani / 13 Photo

Herr Endrass, Sie sind Experte für forensische Psychologie. Erklären Sie kurz, was Sie tun.

Forensische Psychologen arbeiten mit Gewalt- und Sexualstraftätern, um das Risiko, das von ihnen ­ausgeht, zu minimieren. In einem zweiten Schritt ­planen sie Interventionen, um das Rückfallrisiko zu senken. Diese Abklärungen sind aufwendig, die Therapien ­langwierig. Man macht das vor allem bei Menschen, von welchen eine hohe Gefahr ausgeht.

Kommt es vor, dass Sie sagen: «Es war unvermeidlich, was diese Person getan hat»?

Es gibt Fälle, bei denen die Persönlichkeit ein sehr hohes Risiko darstellt. Die einen sind psychotische Patienten, die etwa Stimmen hören. Wenn dazu noch eine Vorgeschichte mit Gewalt kommt, ist es fast klar, dass irgendwann etwas passieren wird. Dann gibt es andere, die eine Psychose haben, dazu eine schwere Form von Persönlichkeitsstörung, eine sogenannte Psycho­pathie. Nur wenige mit solchen ausgeprägten Risikoeigenschaften begehen keine Straftat. Allerdings sind nicht alle Mörder psychisch krank, und die aller­meisten psychisch Kranken werden nie gewalt­tätig. Da darf man nicht stigmatisieren. 

Sie sprechen die Vorgeschichte an: Welchen ­Einfluss hat dabei das Umfeld? Können wir alle zu Mördern werden, wenn sich unglückliche ­Umstände verketten?

Häufig besteht eine Wechselwirkung zwischen Bio­logie und Umwelt. Wenn Menschen mit einer solchen ­Anfälligkeit in einem förderlichen Umfeld aufwachsen, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie gewalttätig werden. Andersherum gilt: Bei einem schwierigen Umfeld, aber ohne psychische Veranlagung ist die Wahrscheinlichkeit, gewalttätig zu werden, ebenfalls nur leicht erhöht. Bei einem problematischen Umfeld und der Anfälligkeit dafür explodiert die Wahrscheinlichkeit. In der Schweiz ist die Mordrate sehr tief. Wenn hier jemand jemanden umbringt, dann ist ganz viel falsch gelaufen. 

Welches sind typische Persönlichkeitseigenschaften, die zu einer solchen Risikoexplosion führen?

Auffällig ist ein dissoziales Verhalten, also sehr impulsiv, wenig empathisch. Viele der Täter und Täterinnen haben das Gefühl, dass Normen und Gesetze für sie nicht gelten. Diese Gruppe ist gut untersucht und sie hat eine grosse ­biologische Komponente, die vermutlich angeboren ist. Diese erklärt aber nicht alles. 

Wo setzen Sie in diesen Fällen bei der Therapie an? 

Wir sehen bei Menschen, die gewalttätig werden, gewisse Denkmuster. Nicht bei allen gleich ausgeprägt, aber viele müssen sich legitimieren. Das machen ­gerade Sexualstraftäter, die sich lange vor der Tat ­Theorien zurechtlegen, die ihr Handeln für sich rechtfertigen. Auch im Alltag tun wir das, etwa wenn wir ­einen teuren Kauf rechtfertigen. Doch es spielt eine Rolle, wie weit weg von der Norm das Verhalten ist. Für eine fünfjährige Auszeit brauchen Sie mehr ­Legi­timierung als für fünf Wochen Ferien. Und bei ­Gewalt- und Sexualstraftätern ist diese sogenannte Legiti­mierungsarbeit noch viel grösser. Wenn man ­ihnen das Ausmass der Theoriekonstrukte zeigt, das sie ­brauchen, um ihre Taten zu rechtfertigen, hat man häufig einen guten Ansatz für eine Therapie.

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