Mehrgenerationenhaus: Niemals einsam

In Winterthur wohnen 350 Menschen in einem selbst verwalteten «Mehrgenerationenhaus». Drei von ihnen erzählen, warum ihnen diese anspruchsvolle Wohnform so lieb ist.

Text: Barbara Lukesch, Fotos: Marco Rosasco

Betritt man den Innenhof, befindet man sich augenblicklich in einer eigenen Welt. Das riesige Areal, umgeben von den sechsstöckigen schwedenroten Holzhäusern, ist aufgeteilt in drei Bereiche: den «Dorfplatz» mit einem selbst gebauten Brunnen aus Eichenholz, der an heissen Tagen zur Badi für Gross und Klein wird, einen Spielplatz für die Kinder mit Holzschiff, Klettergerüsten, einem Sonnensegel und Sandgrube und den Treffpunkt zum Relaxen für alle anderen mit einem langen Tisch und Schatten spendender Pergola. Überall wachsen Bäume, hier Äpfel, da Feigen, blühen Rosen, spriesst der Salat im Gemüsegärtchen der Kinder – eine grüne Oase.

Hans Suter grüsst zwei Frauen, die mit ein paar Knirpsen den Steinboden mit Malkreide verschönern, und einige Girls, die ihren freien Nachmittag geniessen. Man kennt den gross gewachsenen Mann mit seinem beigen Häkelkäppi und dem weissen Pferdeschwanz. Der 72-Jährige bezeichnet sich denn auch gern als «Anstifter» des generationenübergreifenden Wohnprojekts in der Winterthurer Giesserei. Mit seiner Frau und seiner Tochter hatte der Architekt bereits im Toggenburg in einer ähnlichen Siedlung gelebt, die allerdings deutlich kleiner war. Als sich die Familienphase dem Ende zuneigte, wollte er unbedingt nach Winterthur ziehen; die Stadt hatte ihm immer schon gefallen. Er sei ein Mensch, der einerseits Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten brauche, andererseits aber auch die Gesellschaft von Freunden und guten Bekannten, mit denen er «etwas zu tun haben» wolle, erzählt er in seinem Wohnatelier an der Ida-Sträuli-Strasse.

Teures XXL-Projekt

Das geeignete Umfeld fand Suter schliesslich in der alten «Giesserei», wo er seine Vision von einem Generationenhaus realisieren und bauen konnte. Ein Riesenprojekt, das über 83 Millionen Franken kostete und sich nur mithilfe der Genossenschaft selbstverwaltetes Wohnen (Gesewo) realisieren liess. Es beherbergt in 150 Wohnungen auf 11'000 Quadratmetern Fläche mehr als 350 Menschen. Dazu enthält es verschiedene Gemeinschaftsräume wie einen Saal, in dem sowohl Feste, aber auch Mitgliederversammlungen stattfinden, drei Werkstätten und verschiedene sogenannte Waschbars, die anders als die konventionelle Waschküche auch zum Verweilen und Plaudern einladen sollen.

«Wir spürten auf der Stelle die unglaubliche Energie, die dort herrschte, und waren wie elektrisiert.»
Christian Schaad

2013 zogen die ersten Mieter ein. Heute kann es passieren, dass Interessierte mehr als zwei Jahre warten müssen, bis eine Wohnung frei wird.

Christian Schaad ist mit seiner Partnerin Franziska von Grünigen und den beiden kleinen Kindern vor drei Jahren dazugestossen. Die Familie hatte in Winterthur gelebt und war auf einem Ausflug per Zufall in den Innenhof der Giesserei gekommen: «Wir spürten auf der Stelle die unglaubliche Energie, die dort herrschte, und waren wie elektrisiert», erzählt der Lehrer und selbstständig tätige Vermieter von Filmequipment. Eine charmante Begegnung – mehr nicht, dachte er. Doch als die Familie 2016 umziehen wollte, entdeckte sie dank Zufall eine leer stehende Sechseinhalb-Zimmer-Wohnung in der Giesserei, die mit 2670 Franken inklusive Nebenkosten plus Pflichtdarlehen in der Höhe von 86'000 Franken bezahlbar war.

Pflichtstunden fürs gemeinsame Wohl

Das Glück wollte es, dass sie den Aufnahmekriterien des Mehrgenerationenhauses in Winterthur entsprachen, die in einem grossen Katalog festgelegt sind. Sie passten mit damals 45 und 38 Jahren in die Altersstruktur, als Familie mit zwei Kindern hatten sie Anrecht auf eine grosse Wohnung, sie besassen kein Auto und – ganz wichtig – die Eltern waren von Anfang an bereit, rund dreissig Pflichtstunden pro Jahr zu leisten, die der Gemeinschaft zugutekommen. Christian Schaad engagiert sich beispielsweise im Kulturbereich der Siedlung und kümmert sich um die Website und den Kulturkalender. Andere bewirtschaften die Gemeinschaftsräume oder putzen das Treppenhaus. Wer längere Zeit krank oder beruflich überlastet ist, kann sich mit einem Betrag von zwanzig Franken pro Stunde «freikaufen»; das Geld fliesst in die Gemeinschaftskasse.

Austausch willkommen

Fragt man Christian Schaad, was er inzwischen vom konventionellen Wohnen hält, lacht er: «Heute kommt mir dieses Gärtlidenken regelrecht absurd vor.» Die Leute seien in erster Linie darauf bedacht, ja keinen Kontakt zu ihren Nachbarn zu haben. «Bei uns hingegen sind die Balkone nicht nur frei von Trennwänden, sondern bewusst miteinander verbunden und laden damit regelrecht zum Austausch ein.» Auch schätze er das Zusammenleben der verschiedenen Generationen. Er zeigt auf Isabelle Sorbé, die die Runde ergänzt, und erzählt: «Ich erinnere mich gut, wie meine Kinder letzten Sommer mit Isabelle Salat gepflanzt haben.»

Die 69-Jährige, eine Bewohnerin der ersten Stunde, nimmt den Ball auf und erzählt, dass sie von einem jungen Familienvater bei Computerproblemen unterstützt werde, dessen Kinder sie im Gegenzug hin und wieder hüte: «In der Giesserei erlebe ich wirklich so etwas wie Solidarität, auch in der Art, wie Menschen, die eher am Rande standen, sich integrieren können oder wie wir – alles in allem zwanzig Nationalitäten – es mit der Zeit gelernt haben, gut miteinander auszukommen.» Damit den Männern und Frauen aus dem Iran, Pakistan, der Mongolei, dem Kongo, aus Italien, Deutschland und der Schweiz dies gelingt, finden immer wieder Feste statt, an denen sich die Einzelnen mit Spezialitäten aus ihrer Landesküche beteiligen.

Ein «Dorf mit ganz normalen Menschen»

Christian Schaad erinnert die Siedlung, zu der unter anderem auch eine Kita, eine Beiz und eine Gruppenpraxis gehören, an «ein Dorf mit ganz normalen Menschen, die auch mal Konflikte austragen, aber den festen Willen haben, in einer Gemeinschaft zu leben und vieles miteinander zu teilen». So schätzen seine Partnerin und er die beiden Whatsapp-Familienchats, wo von gerade fehlenden Windeln bis zum Piccolini-Zmittag mit den Kleinsten alles verhandelt werde. Hans Suter pflichtet bei: «Bei uns wohnen offene, sehr kommunikative und sozial engagierte Menschen, und – vielleicht eine Folge dieser Mischung – mit 60 Prozent deutlich mehr Frauen.»

Aber selbst diese Frauen und Männer brauchen ja bisweilen eine Privatsphäre und die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Isabelle Sorbé nickt. Nach einer Krankheit vor zwei Jahren habe sie während einiger Monate das Bedürfnis gehabt, sich mehr als sonst in ihren eigenen vier Wänden aufzuhalten: «Das ging problemlos, wobei …», sie lacht und zögert ein, zwei Sekunden, «… ich manchmal ein schlechtes Gewissen hatte.» Sie seufzt: «In einer solchen Gemeinschaft gibt es einen gewissen Gruppendruck. Das lässt sich nicht leugnen.» Die beiden Männer relativieren ihre Aussage, indem sie betonen, dass so etwas auch immer eine Frage der eigenen Wahrnehmung sei: «Es hat dir niemand verübelt, Isabelle, dass du damals weniger präsent warst.»

Natürlich funktioniere ein Selbstverwaltungsprojekt wie ihr Haus nur, wenn sich ein grosser Teil der Stimmberechtigten an den basisdemokratischen Diskussionen beteilige, räumt Christian Schaad ein. Es sei wichtig, sich in Arbeitsgruppen zu organisieren und die Mitgliederversammlungen zu besuchen, von denen es sechs pro Jahr gebe. Mit den durchschnittlich 100 Teilnehmenden, was zwei Fünfteln der Stimmberechtigten entspreche, seien sie mehr als zufrieden: «Damit ist ein Riesenanteil unserer Bewohnerschaft aktiv.»

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