Dossier: Digitales Leben

Mental Health Apps: Das sollten Sie wissen

Ob als Unterstützung gegen Depressionen und Essstörungen oder als Coach für Meditation und Achtsamkeit – Apps für mentale Gesundheit liegen im Trend. Entsprechend wichtig ist es, gute Angebote von schlechten unterscheiden zu können.

Text: Stefan Schweiger; Foto: iStock; Portrait: Luca Christen

Fast 39 Prozent der Frauen in der Schweiz haben sich 2021 im Verlauf von vier Wochen ständig oder zumindest gelegentlich entmutigt und deprimiert gefühlt. Bei Männern sind es mit knapp 27 Prozent zwar deutlich weniger, wie aktuelle Erhebungen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zeigen, doch die Zahlen belegen klar, dass psychische Gesundheit ein dringlicher werdendes Thema ist.

Die Menschen scheinen dies ernst zu nehmen: Sich um sich selbst zu kümmern ist heute ein Thema. Zumindest deutet dies die schier explodierende Menge an Apps zu psychischer Gesundheit – Stichwort «Mental Health» – an. Diese sollen eigene Verhaltensmuster erkennen und deuten können und dabei helfen durchzuschnaufen, Dampf abzulassen und Emotionen festzuhalten. So zumindest die Versprechen solcher digitaler Anwendungen.

Um gute Angebote von schlechten zu unterscheiden, kann ein erstes Indiz das Ranking bei den Downloads sein. Besser aber sind wissenschaftliche Versuche, Nutzerinnen und Nutzern handfeste Kriterien an die Hand zu geben. In einer grossen Literaturstudie haben Forschende im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit die drei Faktoren zusammengetragen, die für Qualität stehen. Gut gemachte Apps, die von den Nutzerinnen und Nutzern regelmässig gebraucht werden und zu Verhaltensänderungen beitragen, haben demnach gemeinsam, dass sie …

  • … individuelle Ziele setzen, die persönliche Bedürfnisse berücksichtigen.
  • … das Verhalten beobachten und es interaktiv abfragen.
  • … unmittelbar motivierendes Feedback geben.

Als Anhaltspunkte sind solche Kriterien hilfreich. Je nach individuellem Ziel lohnt es sich aber, genauer hinzusehen.

Apps gegen Depressionen

Was ist als Ziel realistisch – und was nicht? Programme, die auf der kognitiven Verhaltenstherapie basieren, können dabei helfen, negative Denkmuster zu erkennen und neue Verhaltensweisen einzuüben. Depressions-Apps eignen sich aber nur bei leichten Depressionen – und funktionieren nachweislich besser, wenn sie in eine Psychotherapie mit einem menschlichen Gegenüber integriert sind.

Typisches Feature: Ein Stimmungstagebuch trackt täglich das Befinden und gibt Feedback, wie sich die Stimmung im besten Fall bessern lässt. Im Dialog mit dem Programm werden individuell passend Übungen abgeleitet, um Denkmuster zu verändern.

Typsache: Man wird bei vielen Anwendungen durch einen Dialog geführt, der unpersönlich wirken kann – schliesslich hat man nur in  wenigen Apps tatsächlich Kontakt zu einem menschlichen Psychotherapeuten.

Bekannte Apps: Deprexis, Moodpath, Moodgym, Selfapy, Novego, Cara Care, Hello Better

Apps gegen Essstörungen

Was ist als Ziel realistisch – und was nicht? Patientinnen und Patienten mit einer Essstörung erhalten durch Apps permanent Unterstützung, um ihr Verhalten zu verändern. Als alleiniger Therapiebaustein werden sie aber nicht empfohlen, sondern lediglich als Ergänzung. Oder um nach einer erfolgreichen Therapie dranzubleiben.

Typisches Feature: Das Tagebuch sammelt Ernährungsprotokolle und motiviert durch direkte Rückmeldung, indem es Fortschritte visualisiert. In erwartbar schwierigen Situationen schickt die App persönliche Nachrichten, die unterstützen sollen.

Typsache: Einige Apps bieten an, die gesammelten Daten mit der behandelnden Therapeutin zu teilen. Diese Art der Überwachung ist wirksam – kann sich aber auch bevormundend anfühlen.

Bekannte Apps: MindDoc, Recovery Record, Selfapy

Apps für Meditation und Achtsamkeit

Was ist als Ziel realistisch – und was nicht? Den Geist fokussieren, um ihn zu beruhigen: Wer dorthin gelangt, kommt im Moment an und erlebt Entspannung durch Achtsamkeit. Ziel vieler Meditationen ist, Gedanken und Gefühle zu beobachten, ohne sie zu bewerten. Genau daran scheitern aber viele Menschen ohne die Anleitung eines menschlichen Profis – gerade am Anfang.

Typisches Feature: Geführte Meditationen und Achtsamkeitsübungen zum Anhören am Smartphone. Im Idealfall bauen die Übungen aufeinander auf und geben Rückmeldung zum Fortschritt. Angefangen bei Atemübungen über Einschlaftrainings bis hin zu Traumreisen.

Typsache: Die Stimme muss einen sympathischen Klang haben, damit man ihr über längere Zeit in Meditationen folgen wird. Zudem werden viele Apps nur in englischer Sprache angeboten.

Bekannte Apps: Headspace, 7Mind, Calm, Breathing Zone, Balloon

Gut zu wissen

Unterstützung und Tipps rund um die psychische Gesundheit finden Sie in unserem kostenlosen Guide für mentale Gesundheit in der Sanitas Portal App. 

Zum Guide

Nachgefragt beim Experten: Wie gut sind Mental Health Apps wirklich?

Herr Berger, wie hoch muss meine Motivation sein, damit eine App überhaupt eine Chance hat, mir zu helfen?

Eine App hilft nur, wenn sie auch genutzt wird. In Studien haben wir festgestellt, dass Menschen, die ein gewisses Level an Leidensdruck erreicht haben, motivierter sind, tatsächlich etwas zu ändern und sich von einer App unterstützen zu lassen. Wenn der Leidensdruck fehlt, weil man sich zum Beispiel nicht depressiv fühlt, wird man keine App verwenden. Denn dann gibt es ganz einfach keinen Grund dafür.

Leidensdruck ist als Motivationsfaktor aber doch eher negativ geprägt. Kann man es im Sinne der Prävention nicht auch positiv formulieren?

Die Chance, dass eine App gut wirkt, steigt, wenn eine Person eine positive Erwartung damit verbindet – wenn sie also daran glaubt, dass ihr etwas helfen kann. Und dass sie selbst dazu beitragen kann, dieses Ziel zu erreichen. Der Wunsch zu Veränderung muss aber da sein. Grundsätzlich ist es eine gute Sache, dass wir mit niedrigschwelligen digitalen Angeboten auch Menschen erreichen, für die eine Sprechzimmertherapie nie infrage käme.

Damit werben auch die Hersteller digitaler Anwendungen – versprechen oft aber ganz schön viel.

Wenn der Indikationsbereich eingeschränkt ist – wenn also transparent gemacht wird, in welchem begrenzten Bereich eine App hilfreich sein kann –, ist das ein Zeichen für Qualität. Gibt es vielleicht sogar Kontraindikationen, die gegen die Nutzung der App sprechen? Etwa dass eine App nicht für akute suizidale Krisen geeignet ist. Wenn sie dagegen alles verspricht, ist das eher unseriös.

Lassen sich bei Mental Health überhaupt pauschal Qualitätskriterien für Apps festlegen?

Viele Anwendungen versuchen wissenschaftlich nachzuweisen, dass sie einen Nutzen haben. Die breite Masse in den App Stores tut dies aber nicht. Die Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen hat Qualitätsstandards für Online-Interventionen entwickelt, an denen man sich orientieren kann. Neben den klar benannten Grenzen, wofür eine App geeignet ist, ist es vor allem Transparenz: Wer steckt hinter einer App, welche Expertise? Welche Kosten kommen auf mich zu? Ausserdem natürlich Vertraulichkeit und Datenschutz: Es sollten nur Daten abgefragt werden, die zur Nutzung der App notwendig sind – und die dürfen natürlich nicht weitergegeben werden.

Wann würden Sie davon abraten, eine App zu nutzen?

Wenn sich mein Zustand durch die Nutzung verschlechtert und ich nicht von einer Fachperson begleitet werde. Das kann zum Beispiel in der Behandlung von Angststörungen oder zeitweise auch in einer Psychotherapie passieren. Dann ist es aber wichtig, dass mir eine Fachperson zur Seite steht.

Zur Person

Prof. Thomas Berger ist Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Bern. Er gilt als Pionier für internetbasierte Psychotherapie in der Schweiz.

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