Dossier: Familie

Depressionen bei Kindern und Jugendlichen

Psychische Probleme haben bei Kindern und Jugendlichen seit der Pandemie stark zugenommen. Wie Sie Symptome frühzeitig erkennen und gemeinsam als Familie seelische Schmerzen überwinden.

Text: Jessica Braun & Laurina Waltersperger; Foto: iStock

Noch nie zuvor suchten so viele Kinder und Jugendliche Hilfe beim Beratungstelefon 147 der Pro Juventute wie heute: Seit 2019 haben die Anrufe wegen Suizidgedanken um 82 Prozent zugenommen, Anrufe wegen Depressionen haben seither um 61 Prozent zugelegt. Täglich macht das im Durchschnitt etwa 9 Betroffene, die wegen Suizidgedanken telefonische Hilfe suchen.

Zudem ist jeder zehnte Jugendliche in professioneller psychologischer Behandlung. Das zeigen die Daten der ersten Jugendstudie, die die Pro Juventute 2024 zum ersten Mal durchgeführt hat.

Diese Situation halten Fachpersonen für besorgniserregend. Besonders vor dem Hintergrund, dass Betroffene seit der Pandemie oft monatelang oder noch länger auf einen Termin bei der Psychiaterin oder dem Psychotherapeuten warten müssen, wenn sie sich professionelle Hilfe holen möchten.

Umso wichtiger ist es, dass Betroffene und Eltern lernen, wie sie frühzeitig psychische Leiden erkennen und so selber ihre mentale Gesundheit stärken können.

«Meistens sind es verschiedene Faktoren [...], die Kinder und Jugendliche psychisch belasten.»
Caroline Pulver, Leiterin der Pro Juventute Deutschschweiz

Symptome: Wie äussert sich eine Depression bei Kindern und Jugendlichen?

Die Anzeichen einer Depression können je nach Altersgruppe der Betroffenen unterschiedlich ausfallen. Dennoch sind die Symptome aber auch ungeachtet des Alters teilweise sehr unterschiedlich.

Kinder im Vorschul- und Schulalter

Kommt es in dieser Altersgruppe zu depressiven Verstimmungen oder einer Depression, ändert sich meist plötzlich das Verhalten der Kinder. Besonders kontaktfreudige Kinder ziehen sich oft zurück, andere reagieren öfters traurig, gereizt oder aggressiv, sie schlafen schlecht, oder ihre Konzentration nimmt ab.

Oft kommen auch körperliche Beschwerden dazu, wie Bauch- oder Kopfschmerzen. Gerade bei Kindern seien Bauchschmerzen ohne physiologisch ersichtlichen Grund recht häufig, sagt Caroline Pulver, Sozialwissenschaftlerin und Leiterin der Pro-Juventute-Beratung in der Deutschschweiz.

Jugendliche in der Pubertät

In dieser Altersgruppe passiert viel, körperlich wie seelisch. Der Körper verändert sich, es kommt zu einer hormonellen Umstellung. Wie jüngere Kinder auch, zeigen Jugendliche in der Pubertät folgende depressionsbezogene Symptome: Rückzug, Desinteresse, Motivationsschwierigkeiten, Antriebslosigkeit, Gereiztheit, Stimmungsschwankungen.

Bei den körperlichen Symptomen sind Kopfschmerzen häufig. Teilweise auch Bauchschmerzen, gesteigerter oder kaum noch vorhandener Appetit.

Ursachen: Wie entstehen Depressionen bei Kindern?

Meistens seien es verschiedene Faktoren wie Probleme im engen Umfeld, generelle Ängste und die Ungewissheit vor der eigenen Zukunft, die Kinder und Jugendliche psychisch belasten und zu Depressionen führen können, sagt Caroline Pulver, Sozialwissenschaftlerin und Leiterin der Pro-Juventute-Beratung in der Deutschschweiz.

In den Beratungsgesprächen beim 147 erhalten Pulver und ihre Kolleg:innen einen Eindruck davon, was genau diese Ängste bei den Betroffenen auslöst: Es seien sowohl die gesellschaftlichen globalen Krisen als auch persönliche Alltagssorgen, die bei den Kindern und Teenagern zu Unbehagen führen, sagt Pulver.

Geopolitische Ereignisse

Die Corona-Pandemie ist für viele von ihnen die erste grosse Krise gewesen. Zwar haben wir diese gut überstanden – aber es folgen seitdem weitere Krisen wie die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten oder die Klimakrise. «Sie verstärken die Ängste und psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen, weil sie sich in einer empfindlichen Entwicklungsphase befinden», sagt Pulver.

Diese geopolitischen Ereignisse seien durch die digitalen Medien heute im Alltag von Kindern und Jugendlichen zudem dauernd präsent, und die Abgrenzung davon wird immer schwieriger.

Gesellschaftlicher Leistungsdruck

«Daneben leiden Betroffene vermehrt unter erhöhtem Leistungsdruck, weil die gesellschaftlichen und schulischen Anforderungen steigen», sagt die Expertin. Zu den häufigsten Stressoren zählen gemäss Pro-Juventute-Jugendstudie 2024 auf dem ersten Platz Schul- und Ausbildungsstress, gefolgt vom allgemeinen Leistungsdruck, von dem Gefühl, zu wenig Geld zu besitzen, hohen Anforderungen in der Schule, der beruflichen Zukunft.

Wie verschiedene Erhebungen zeigen, erleben Jugendliche und junge Erwachsene (14- bis 29-jährig) heute deutlich häufiger Stress, Erschöpfung, Selbstzweifel und Gereiztheit als etwa die Altersgruppe der 50- bis 69-Jährigen.

Ist es normal, in der Pubertät depressiv zu sein?

In der Pubertät kommen neben den Ängsten und dem Leistungsdruck weitere Faktoren dazu, die den Betroffenen auf die Psyche schlagen: Zum einen befinden sich die Hormone aufgrund der körperlichen Veränderungen auf einer Achterbahn. Auch das Gehirn verändert sich während der Pubertät stark. «Es befindet sich in einem neuronalen Umbau. Das führt zu häufigen Stimmungsschwankungen», sagt Pulver.

Stimmungsschwankungen vs. Depression

Hinzu kommt oft die erste Liebe – und dann auch der erste Herzschmerz, Probleme zu Hause mit den Eltern und in der Schule. «Vor dieser Ausgangslage sind Stimmungsschwankungen in der Pubertät bis zu einem gewissen Grad ganz normal und nicht sofort Ausdruck einer psychischen Erkrankung», sagt Caroline Pulver.

Es komme jedoch darauf an, wie lange diese andauern und wie stark die Betroffenen darunter leiden. «Hier sind das eigene Empfinden und der Leidensdruck für jeden Jugendlichen unterschiedlich. So brauchen die einen früher professionelle Unterstützung als andere, und wieder andere finden ihren Weg ohne Hilfe durch die psychischen Herausforderungen der Pubertät.»

Mädchen häufiger betroffen als Jungs

Die Pro-Juventute-Jugendstudie zeigt auch, dass junge Frauen tendenziell häufiger unter depressiven Symptomen leiden als junge Männer. Bei den Frauen sind dies 36 Prozent ihrer Altersgruppe, bei den Männern sind es 21 Prozent. Rund ein Drittel der Befragten hat bereits Therapieerfahrung.

Lesetipp

«Wie wird mein Kind wieder glücklich?» (Verlag Hogrefe) von Gunter Groen ist ein praxisnaher Ratgeber für Eltern betroffener Kinder und Jugendlicher. 

ISBN: 9783456859590

2. überarbeitete Auflage 2019, 160 Seiten

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Behandlung: Wie wird einem depressiven Kind geholfen?

Grundsätzlich kann einem Kind mit einer Depression am besten geholfen werden, wenn seine psychischen Probleme möglichst früh erkannt werden. Dazu ist es in erster Linie notwendig, dass Kinder und Jugendliche frühzeitig in ihrem Umfeld darüber aufgeklärt werden, dass die Psyche Teil ihrer Gesundheit ist.

Und dass es – wie beim Beinbruch oder einer starken Grippe – auch für psychische Schmerzen wie depressive Gefühle oder Suizidgedanken Fachpersonen gibt, die helfen können. «Junge Betroffene müssen wissen, dass sie nicht alleine sind mit ihren Problemen und dass nichts falsch daran ist, psychische Schmerzen zu empfinden», sagt Pulver.

Als erste Kontaktstelle auf der Suche nach professioneller Hilfe dienen niederschwellige Beratungsangebote wie das 147 und die Elternberatung von Pro Juventute sowie die kinder- und jugendpsychiatrischen Dienste der Kantone. Sie beraten betroffene Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, egal wie akut die aktuelle Situation ist.

Was können Eltern mit depressiven Kindern tun?

Eltern sollten auf jeden Fall das Gespräch mit ihrem Kind suchen, wenn sie merken, dass es diesem psychisch nicht gut geht. Eltern sollten ein Umfeld schaffen, in dem sich das Kind wohlfühlt, auch über schwierige Themen und schwere Gedanken zu sprechen – ein Umfeld, in dem sich Kinder gesehen und gehört fühlen.

Am einfachsten ist es für Eltern, das Gespräch möglichst ungezwungen bei der Tätigkeit im Haushalt wie beim Abwaschen oder bei einem Spaziergang zu suchen. Eltern sollten dabei auf ihre Wortwahl achten. Fachpersonen empfehlen, aus der Ich-Perspektive zu sprechen. Ein Beispiel: «Ich habe den Eindruck, dass du nicht mehr so viel Freude an deinem Hobby hast.»

Wenn Eltern mit ihren Kindern sprechen, sei es besonders wichtig, dass sie erst einmal einfach zuhören, sagt Pulver. Das schaffe bereits eine Entlastung. «Versuchen Sie zudem als Elternteil, die Probleme Ihres Kindes nicht zu bagatellisieren oder zu pauschalisieren. Nehmen Sie Ihr Kind ernst.» 

Fachstellen wie die Pro Juventute empfehlen Eltern, sich bei Spezialist:innen wie der Elternberatung zudem auch selber Hilfe zu holen.  

Was können Kinder und Jugendliche selbst tun?

Für betroffene Kinder und Jugendliche ist wichtig, dass sie ihre gewohnte Tagesstruktur beibehalten. «Das gibt Halt und verhindert, dass Betroffene noch tiefer in eine Abwärtsspirale rutschen», sagt Pulver.

Zudem empfehlen Fachpersonen eine ausgewogene und gesunde Ernährung, um die psychische Gesundheit zu stärken. Es gibt eine Reihe von Methoden wie achtsames Essen und einzelne Lebensmittel, die die Psyche positiv unterstützen.

Hinzu kommt die Erholungszeit im Bett: Um die Psyche zu stärken, sind ausreichend Schlaf und regelmässige Schlafenszeiten notwendig.

Zuletzt hilft auch Sport der Psyche. Dabei ist egal, welche Bewegungsform Betroffene wählen – bereits ein täglicher Spaziergang im Wald hilft, um den Stress zu reduzieren, das Nervensystem zu beruhigen und sich insgesamt besser zu fühlen.

Was tun bei Suizidgedanken des Kindes?

Eltern sollten die Suizidgedanken auf jeden Fall immer ernst nehmen. «Unsere Beratungserfahrung zeigt, dass ein Gespräch bei solchen Gedanken bereits viel bewirken kann», sagt Caroline Pulver.

Die Expertin rät Eltern, unbedingt ruhig zu bleiben und keinesfalls in Panik auszubrechen. «Schaffen Sie eine ruhige Atmosphäre des Vertrauens, in der auch über solche schwierigen Themen gesprochen werden kann», sagt Pulver.

Suizidgedanken eines Kindes sind für die meisten Eltern sehr erschütternd. Es ist deshalb wichtig, sich als Eltern selber auch Hilfe zu holen – zum Beispiel bei der Elternberatung des Wohnkantons oder telefonisch und online bei Pro Juventute.

Anlaufstellen

In der Kinder- oder Hausarztpraxis finden Eltern eine erste Beratung sowie weiterführende Adressen und Ansprechpersonen. Bei einer ernst zu nehmenden depressiven Entwicklung sollten Eltern auch den Austausch mit der Schule nicht scheuen.  

Die Schweizer Stiftung für Kinder- und Jugendförderung Pro Juventute bietet unter der Nummer 147 oder auf 147.ch Hilfestellung für Kinder und Jugendliche und berät Eltern rund um die Uhr per Telefon, Chat oder E-Mail. 

Auch der Elternnotruf ist auf elternnotruf.ch oder telefonisch unter 0848 35 45 55 rund um die Uhr zu erreichen. 

«Versuchen Sie [...], die Probleme Ihres Kindes nicht zu bagatellisieren oder zu pauschalisieren.»
Caroline Pulver, Leiterin der Pro Juventute Deutschschweiz

Wie kann man Depressionen bei Kindern vorbeugen?

Für Kinder und Jugendliche sind Erfahrungen ganz zentral, bei denen sie lernen, dass sie Dinge selber machen und lösen können. Damit lernen sie, was Selbstwirksamkeit ist. Das ist ein zentraler Faktor, um die eigene Resilienz zu verbessern.

«Je mehr selbstwirksame Erfahrungen Kinder haben, desto resilienter sind sie in schwierigen Situationen», sagt Pulver. Wichtig ist, dass sie Vertrauen in die Verbesserung ihrer Situation haben und fühlen, dass sie ihren Problemen nicht ausgeliefert sind.

Selbstwirksamkeit lernen – so geht’s

Selbstwirksamkeit und Resilienz lernen Kinder am besten in einem Zuhause, in dem sie von ihren Eltern von klein auf ermuntert werden, Dinge selber auszuprobieren und Probleme selber zu lösen. Eltern sollten deshalb nicht versuchen, ihren Kindern alle Steine aus dem Weg zu räumen. «Für ein Kind ist es extrem wichtig, selber zu lernen, dass es mit Herausforderungen umgehen und Lösungen finden kann», sagt Pulver.

Dafür braucht es ein Umfeld zu Hause, in dem das Kind Fehler machen kann – und erfährt, dass wir nur aus Fehlern lernen können. Deshalb betont Pulver: «Gerade in der Familie brauchen wir eine offene Fehlerkultur.»  

Als gutes Beispiel vorangehen

Die Expertin weist auch darauf hin, dass Eltern zudem ihrem Kind gegenüber Interesse zeigen sollten – auch wenn die Zeit im Alltag zwischen Beruf, Haushalt und eigenen Problemen oft knapp ist.

«Damit schaffen Sie die beste Basis, dass Ihr Kind zu Ihnen kommt, wenn es ihm nicht gut geht», sagt Pulver. Wichtig sei ein Zuhause, in dem eine Atmosphäre der Offenheit herrscht, in der Kinder und Jugendliche lernen, dass über alles gesprochen werden kann und es keine Tabuthemen gibt.

Über die Expertin

Caroline Pulver ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und Standortleiterin der Beratung Deutsche Schweiz der Stiftung Pro Juventute. Sie war vor ihrer Tätigkeit bei Pro Juventute viele Jahre als Professorin für soziale Arbeit verantwortlich für die Praxisausbildung von Studierenden an der Berner Fachhochschule.

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