Wie individuell ist personalisierte Medizin?
Personalisierte Medizin ist das grosse Zukunftsversprechen der Medizin. Wer profitiert davon heute schon? Um das Potenzial einschätzen zu können, hilft es, den Begriff klarer zu verstehen.
Was ist personalisierte Medizin?
Jeder Mensch ist anders. Auch wenn in der Krankenakte zweier Menschen die gleiche Diagnose eingetragen ist, kann die Krankheit doch ganz unterschiedlich verlaufen. Die eine Person spricht auf ein Medikament vielleicht ganz wunderbar an, die andere erleidet schier unerträgliche Nebenwirkungen. Warum ist das so? Die Orientierung am Durchschnittspatienten in grossen klinischen Studien hat die Medizin ohne Zweifel weit gebracht. Therapien von der Stange à la «One size fits all» bleiben bei der einzelnen Person aber zu oft ohne erwünschten Erfolg, bringen manchmal sogar unnötiges Leid.
Die personalisierte Medizin geht nicht nach dem Prinzip «Versuch und Irrtum» vor, sie versucht, auf der Grundlage medizinischer Daten möglichst individuell passende Vorhersagen zu treffen, welche Behandlung wirken könnte. Hierfür analysiert sie Gesundheitszustand, Alter und Geschlecht bis hin zum genetischen Profil eines einzelnen Menschen im Detail. Zwei Menschen unterscheiden sich im Aufbau ihrer DNA immerhin durch rund sechs Millionen Basenpaare voneinander. Ganz abgesehen von den Umwelteinflüssen, die sie im Laufe eines Lebens individuell prägen.
… und was meint personalisierte Medizin nicht?
Eine Medizin, die sich am Individuum orientiert – das klingt empathisch und persönlich. Zunächst kommt personalisierte Medizin aber fast schon technisch kühl daher: Ohne passende Daten – und davon benötigt sie möglichst viele – keine zielgerichtete Behandlung und keine genaue Diagnose, so der Ansatz. Zumindest ein wenig personalisiert war die Medizin dabei eigentlich immer: Ein 75-jähriger Rentner, der sich den Unterarmknochen gebrochen hat, hat schon immer eine andere Behandlung erhalten als eine 25-jährige Leistungssportlerin.
Es ist aber gar nicht das Ziel der personalisierten Medizin, für jeden Menschen massgeschneidert eine komplett eigenständige Therapie zu entwerfen. Wohl aber, Untergruppen von Patientinnen und Patienten so weit wie nötig auszudifferenzieren, bis die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass einzelne Betroffene ohne Nebenwirkungen von einer Therapie profitieren werden.
Dieser Ansatz läuft auch unter «Präzisionsmedizin» oder «individualisierte Medizin». Die «personalisierte Gesundheit» dagegen setzt noch früher an: nicht erst bei der Behandlung einer Krankheit, die bereits ausgebrochen ist. Sondern bei individuell erfolgversprechenden Massnahmen, um schon vorher gegenzusteuern.
Schon gewusst?
- 42 Prozent der im Jahr 2018 in den USA neu zugelassenen Medikamente waren personalisierte Therapien. (Quelle: FDA)
- Erst seit Mai 2021 ist das menschliche Genom vollständig entschlüsselt.
- Menschen sind untereinander zu 99,9 Prozent in ihrer genetischen Ausstattung identisch. Aber eben auch zu 0,1 Prozent nicht.
Mehr Daten, bessere Medizin? Innovationstreiber Biomarker
Sogenannte Biomarker weisen – ähnlich wie der Fingerabdruck – jeden einzelnen Menschen als absolut individuell aus: angefangen bei den Daten, die die Smartwatch am Handgelenk aufzeichnet, über den Blutdruck, den Blutzuckerspiegel und andere Laborwerte bis hin zu ausgefeilten Genanalysen. In der Summe lassen sich über jeden einzelnen Menschen Unmengen an Biomarkern, also Körperdaten zusammentragen.
Dann kommt es darauf an, diese digitalen Einsen und Nullen auch sinnvoll zu nutzen – etwa für Vorhersagen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person eine bestimmte Krankheit entwickelt oder von einer gezielten Therapie profitieren wird. Ohne Hochleistungsrechner stünden die Chancen schlecht, dieser Datenflut Herr zu werden.
Ausgeklügelte Algorithmen und künstliche Intelligenz helfen dabei, Muster zu identifizieren, wo man vorher vielleicht keine Gemeinsamkeiten vermutet hätte. Gesundheitsdaten helfen – solange sie nicht nur um der Datensammelei willen erhoben werden und vor Missbrauch geschützt sind.
Will man das alles wissen? Das Recht auf Nichtwissen
Da geht man zur Routineuntersuchung und erfährt dank moderner Untersuchungsmethoden völlig unerwartet von einem Gendefekt, der zu einer sehr seltenen, aber gravierenden Erbkrankheit führen könnte. Aber nicht muss. Antworten, die Gentests geben, sind häufig nicht schwarz oder weiss, sondern liegen in einem Graubereich.
Und dieser Bereich ist geprägt von Unsicherheit, die psychisch immens belasten kann: Wie soll man damit umgehen, wenn eine Untersuchung ergibt, dass man die gleiche Mutation auf dem Gen «BRCA1» trägt wie die Schauspielerin Angelina Jolie? Eine Mutation, die das Risiko für Brustkrebs drastisch erhöht. Soll man sich wie Jolie vorsorglich beide Brüste abnehmen lassen? Mit einer solchen Entscheidung darf niemand allein gelassen werden.
Deswegen, so der Konsens in der Medizin, sollen Genuntersuchungen immer ärztlich begleitet werden. Dies schliesst aber nicht jeder online georderte Gentest mit ein. In jedem Genom werden sich Konstellationen finden lassen, die beunruhigen können. Es gibt bei allem medizinischen Fortschritt aber ein Recht auf Nichtwissen, wenn man dies wünscht.
Wer profitiert heute schon von personalisierter Medizin? Das Beispiel Krebstherapie
Weniger Bauchgefühl, dafür Entscheidungen auf solider Datengrundlage: Das erleichtert Ärztinnen und Ärzten die Arbeit. Personalisierte Medizin hat heute schon die Behandlung in der Onkologie verbessert: Krebszellen entstehen durch Veränderungen von Zellen, sogenannte Mutationen. Jedoch ist Krebs nicht gleich Krebs.
Im Tumorgewebe von zwei Betroffenen mit der gleichen Erkrankung finden sich nicht automatisch dieselben Mutationen. Zum Beispiel profitieren Patientinnen mit Brustkrebs, auf deren Tumorzellen der Wachstumsfaktor «HER2» übermässig häufig auftritt, von einer Therapie, die genau auf diesen Faktor abzielt. Trifft dies nicht zu, muss sich eine Patientin dagegen gar nicht erst dieser Behandlung unterziehen. Dann muss eine passende Alternative her.
Auch bei fortgeschrittenem Darmkrebs können bestimmte Antikörper nur dann erfolgreich angreifen, wenn das Gen «KRAS» noch nicht mutiert ist. Ähnliche Ansätze der Präzisionsmedizin kommen heute bereits in der HIV-Therapie, gegen Alzheimer und Parkinson oder nach einer Organtransplantation zum Einsatz.
Kostentreiber oder Wunderwaffe?
Es ist kein Geheimnis: Personalisierte Therapien kosten viel Geld. Die Hoffnung ist aber, dass sie sich in der Summe trotzdem einmal rechnen werden, wenn dadurch andere unnötige Therapien, die keinen Erfolg bringen, von vornherein vermieden werden können. Stichwort Kosteneffizienz.
Eine Prognose, ob die Investitionen in die personalisierte Medizin im Heute das Gesundheitssystem von morgen vielleicht sogar entlasten können, ist kaum möglich. Mut macht unter anderem der Preis für Gentests: Vor nicht langer Zeit noch schier unbezahlbar, verlangen Online-Anbieter inzwischen teilweise weniger als 100 Franken dafür. Die Rechnung der personalisierten Medizin könnte aufgehen – wenn auch vermutlich nicht in jedem Bereich der Medizin.