Spielerisch gesund werden

Exergaming verbindet Computerspiele mit körperlicher Arbeit und vernetzt damit kognitive mit motorischen Fähigkeiten. Das bringt neurologische Patienten, aber auch Spitzensportler wieder ins Gleichgewicht.

Text: Robert Wildi; Fotos: Sebastian Doerk

«Ui, das rüttelt ja gehörig!»: Voll konzentriert steht die 73-jährige Frau mit beiden Füssen auf einer kleinen runden Platte, die bei geringsten Gewichtsverlagerungen sofort nachgibt. Zur Seite, nach vorn und hinten. Aufgabe der Seniorin ist es, sich mit viel Balance und Körpergefühl so zentral auf die Plattform zu stellen, dass diese möglichst waagrecht bleibt. Wie gut ihr das gelingt, kann sie auf dem kleinen Bildschirm der sogenannten «Prokin-B-Platte» gleich selbst überprüfen. Dort werden alle Bewegungen und Abweichungen von der «goldenen Mitte» vermessen und dokumentiert. Das macht offensichtlich Spass, denn die Frau lacht laut auf, wenn es nach einem Wackler wieder vibriert unter den Sohlen, gibt sich aber nicht geschlagen. «Das schaffe ich!»

Altersturnstunde im Seniorenheim? Weit gefehlt, wir befinden uns in der Universitätsklinik Balgrist, konkret im Zentrum für Prävention und Sportmedizin. Nur drei Meter von der älteren Frau entfernt ist ein junger Leistungssportler mit beeindruckendem Bizeps am Werk. Sein Trainingsgerät erinnert mit grossem Bildschirm an die Szenerie im Spielsalon. Doch auch der junge Athlet muss mit Druck und Gewichtsverlagerung der Füsse arbeiten: Auf zwei massiven Pedalen stehend steuert er einen Pinguin auf dem Screen eine Skipiste hinab. Tempo und Linie bestimmt er einzig durch Koordination und Kraft seiner Beinmuskeln.

Exergaming: Reha für Spitzensportler bis Schlaganfallpatienten

Was die beiden hier treiben, ist ein auf Computerspielen basierendes Körper- und Reaktionstraining, genannt «Exergaming» – oder auf Deutsch: Fitnessspiel. Erste Prototypen, die Computerspiele mit körperlicher Bewegung koppelten, brachte Nintendo bereits in den 1980er-Jahren auf den Markt. Heute kommt Exergaming mit topmodernen Geräten, die sich zum Beispiel «Prokin» oder «Allegro» nennen, in der Gesundheitsförderung, im Leistungssport sowie im Fitnesssektor zur Anwendung.

Aber: Exergaming ist kein E-Sport, betont  Johannes Scherr, Chefarzt und Leiter am Universitären Zentrum für Prävention und Sportmedizin im Balgrist: «Beim E-Sport beschränkt sich die Bewegung auf Finger und wenige Muskelgruppen, während Exergaming motorische Fähigkeiten aktiviert, die gezielt mit den kognitiven Anforderungen des Spiels vernetzt werden.»

Genau diese Koppelung der Elemente mache die Methode sowohl für therapeutische als auch präventive Behandlungen so wertvoll. «Beim Gleichgewichtstraining auf der Platte reduzieren ältere Menschen effizient ihre Sturzgefahr und erhöhen gleichzeitig motorische Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags», betont der Mediziner. «Auch Patienten mit Gleichgewichtsstörungen werden neu motiviert und erzielen mit Exergaming-Therapien verblüffende Erfolge.»

Neue Trainingsreize setzen

Zunehmend beliebter wird die Verbindung von Computerspiel mit körperlichem Koordinations- und Krafttraining bei Vertretern aller Altersgruppen. Das Skipistentraining mit dem Pinguin dient Spitzensportlern nicht nur zur Optimierung ihrer Wettkampfleistungen, sondern auch zum gezielten Aufbau nach Verletzungen oder Operationen. «Damit lässt sich beispielsweise die Regeneration von lädierten Bändern oder der Patella-Sehne beschleunigen», weiss Johannes Scherr von diversen Patientinnen und Patienten, auch aus dem Breitensport.

Exergaming wird auch vermehrt für rein präventive Zwecke zum Fitness- und Muskelaufbau genutzt, sozusagen als Gym mit erhöhtem Spassfaktor. «10er-oder 20er-Abos werden bei uns intensiv nachgefragt», beobachtet der Chefarzt.
Langjährige Hobbysportler begründen ihm die Integration von Exergaming in ihre Aktivitäten mit einer Lust auf neue Trainingsreize.

Dem Reiz, die perfekte Balance auf der «Prokin-B-Platte» auch bei erheblichen Erschwernissen rasch wieder zu finden, scheint auch die über 70-jährige Seniorin zu erliegen. Ihr Trainings-Instruktor muss sie nach über 20 Minuten für eine Verschnaufpause von der Platte holen. Daneben hat der rasende Pinguin soeben die Ziellinie überquert.

 

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