Dossier: Stress und Entspannung

Wir sollten Stress nicht verteufeln!

Gab es auch früher Stress? Was hat sich seit früher geändert? Welche Hilfen bietet ein Stressbewältigungskurs? Im Interview mit der Professorin Ulrike Ehlert von der Uni Zürich finden wir Antworten auf oft gestellte Fragen.

Text: Michael Suter, Fotos: Filipa Peixeiro

Unterscheidet sich der Stress bei einem Vortrag vor 300 Leuten von dem mit einem quengelnden Kind an der Supermarktkasse?

Grundsätzlich ist Stress etwas sehr Individuelles. Was den einen stresst, bringt den anderen nicht aus der Ruhe. Aber egal, ob schreiendes Kind oder Lampenfieber: Im Körper läuft immer dasselbe ab. Die Pegel der Botenstoffe Noradrenalin und Adrenalin sowie des Stresshormons Cortisol steigen, Atmung und Herzschlag werden schneller. Diese Reaktion ist bei manchen Menschen heftiger als bei anderen. Beeinflusst wird das genetisch, aber auch durch Umwelteinflüsse wie etwa unsere Erziehung.

Wie erkennt man, dass man sich langfristig zu viel zumutet?

Es gibt zwei untrügliche Zeichen: schlechten Schlaf und erhöhte Reizbarkeit. Diese ernst zu nehmen, ist ein erster Schritt, um Stress anzugehen und Stressfolgen wie Burn-out, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schmerzen vorzubeugen.

Ab wann ist externe Hilfe empfehlenswert? Und an wen kann man sich wenden?

Grundsätzlich versuchen wir ja einiges selbst, um unseren Stress in den Griff zu bekommen. Wenn wir aber feststellen, dass uns alles zu viel wird und unsere Kollegen, Freunde oder die Familie uns fragen, wann es denn wieder besser wird mit dem Stress, dann braucht es externe Hilfe. Das kann im ersten Schritt der verständnisvolle Hausarzt sein. Er kann dann gegebenenfalls an einen Psychotherapeuten überweisen.

Kann man trainieren, stressresistenter zu werden?

Davon bin ich überzeugt! Je eher es einem gelingt, eine negative Stimmung schnell wieder hinter sich zu lassen sowie eine gute möglichst lange zu bewahren, desto besser kann man mit Stress umgehen. Psychologen nennen dies eine hedonistische Gefühlsregulation. Daran können Sie arbeiten.

Man braucht sich bloss gut zuzureden?

Damit ist zumindest schon viel gewonnen. Wenn Sie auf neue Herausforderungen treffen: Rufen Sie sich frühere Erfolge oder gut bewältigte Schwierigkeiten in Erinnerung! Und ordnen Sie jeden Tag die Bedeutsamkeit von Dingen für sich ein. Fragen Sie sich: Was hängt für mich und für andere von der Situation ab, die mich stresst? Das Wohlergehen meiner Kinder, meines Partners oder mein Job? Wohl kaum. Also können Sie relaxt an die Sache herangehen. Zudem hilft es schon viel, wenn man sich klarmacht, dass man nicht immer eine Top-Performance hinlegen muss.

«Rufen Sie sich frühere Erfolge oder gut bewältigte Schwierigkeiten in Erinnerung! Und ordnen Sie jeden Tag die Bedeutsamkeit von Dingen für sich ein.»
Prof. Dr. phil. Ulrike Ehlert

Viele Menschen versuchen, ihres täglichen Stresses mit Yoga oder Achtsamkeitsübungen Herr zu werden.

Mit solchen Techniken kann man die Stressantwort des Körpers positiv beeinflussen. Wenn man ruhig ein- und ausatmet, signalisiert man dem Gehirn: Ich habe jetzt Zeit, in Ruhe zu atmen. Deshalb werden dann weniger Stresshormone freigesetzt und die Körperanspannung lässt nach. Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training und Co. wirken allerdings nur, wenn man sie regelmässig anwendet.»

Gibt es eine Methode zur Entspannung, die alle anderen schlägt?

Ja – die, die am besten zu Ihnen passt und Ihnen Spass macht! Das kann auch Gärtnern oder gemeinsames Kochen sein. Das muss jeder selbst für sich herausfinden. Studien haben gezeigt, dass auch Sport, gesunde Ernährung und genügend Schlaf dabei helfen, besser mit Stress umzugehen.»

Ist ein Leben ganz ohne Stress erstrebenswert?

Sicher nicht. Wir sollten Stress nicht verteufeln. Weil eine moderate Dosis Stress das Leben erst spannend macht! Wären wir immer nur entspannt, wäre das öde und langweilig. Ich vermute, dass eine völlige Stresslosigkeit für uns am Ende Stress bedeuten würde.

Frau Ehlert, als Stressforscherin haben Sie sicherlich Ihr persönliches Rezept gegen den Stress längst gefunden.

Keinesfalls. Ich lasse mich oft genug stressen! Zum Beispiel wenn mein Zeitplan im Beruf durch etwas Unvorhergesehenes durcheinandergebracht wird. Oder wenn ich mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen sollte.

Und wie gelingt Ihnen Entspannung?

Am besten wirkt bei mir, wenn ich am Abend gemeinsam mit meinem Partner ein feines Essen zubereite und wir dabei zusammen plaudern.

Unser Alltag wird immer schneller, nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung. Leiden wir deswegen heute stärker unter Stress als frühere Generationen?

Ich meine nein. Stress gab es schon immer, er war einfach anders. Zwar empfinden seit einigen Jahren immer mehr Menschen ihren Berufsalltag als stressig. Aber: Frauen hatten früher womöglich ein Kind nach dem anderen, sahen Kinder sterben und hatten mit einem grossen Haushalt alle Hände voll zu tun. Und Männer waren früher oftmals durch schwere körperliche Arbeit belastet.

«Stress gab es schon immer, er war einfach anders.»
Prof. Dr. phil. Ulrike Ehlert

Was kennzeichnet im Gegenzug den modernen Stress?

Wir erledigen Aufgaben schneller und sollen ständig erreichbar sein. Wir suchen Erfolg, Bestätigung und Jugendlichkeit selbst im Alter. Dazu kommt: Stress ist zu einem Lifestyle-Faktor geworden. Wenn ich alles ruhig nehmen kann, bin ich womöglich nicht gefragt und unbedeutend. Wenn sich Berge von Arbeit auf dem Schreibtisch türmen, wie kann man gelassener damit umgehen? Sie müssen zunächst die Wichtigkeit von Dingen für sich einordnen.

... was wichtig ist im Leben?

Nein! Was heute, an diesem Tag, wichtig für mich ist. - Wenn ich zum Beispiel eine Besprechung habe, nach der dann fünf Mitarbeiterinnen ihre weitere Arbeit ausrichten, braucht es dort meine volle Aufmerksamkeit. Sonst ergibt sich daraus vielleicht später ein längerfristiges Problem, weil ich nicht aufgepasst habe. Wenn ich aber im Supermarkt die falschen Nudeln einkaufe, hat das eine geringe Bedeutsamkeit. Es lohnt also, Prioritäten richtig zu setzen und entsprechend zu planen.

Sie sagen, dass wir Probleme oft falsch angehen.

Dem ist so. Viele Leute können schlecht Probleme definieren und diese planvoll lösen. Wenn sie gestresst sind, werden sie kopflos! Sie denken nicht mehr zielführend über ihr Problem nach. Dies bedingt nämlich, dass ich zunächst mein Problem in zwei, drei Sätzen beschreiben kann. Mir dann ein klares Ziel setze. Dazu verschiedene Lösungen suche und mir erst im nächsten Schritt überlege, welche von diesen Wegen machbar ist. Und welches die Konsequenzen sind. Erst dann entscheide ich mich für eine der Lösungen, wende sie (und nur diese eine) an und überlege später: Hat es geklappt? Mit diesem Vorgehen können Sie sich im beruflichen Alltag viel Stress ersparen.

«Viele Leute können schlecht Probleme definieren und diese planvoll lösen. Wenn sie gestresst sind, werden sie kopflos! Sie denken nicht mehr zielführend über ihr Problem nach.»
Prof. Dr. phil. Ulrike Ehlert

Können Kurse zur Stressbewältigung dabei helfen?

Unbedingt. Solche Kurse verfolgen meist drei Ziele: Perfektionismus ablegen und die Bedeutsamkeit von Situationen richtig einschätzen, Probleme planvoll lösen und sich selber in Stresssituationen gut zureden können.

Prof. Dr. phil. Ulrike Ehlert

Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich

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