Dossier: Starke Psyche

Mit gesunden Strategien gegen Selbstverletzung

Rahel F. (21) ist eine von vielen Jugendlichen, die sich selbst verletzt haben. Welche Auslöser bei ihr dahintersteckten und wie sie einen Weg daraus gefunden hat, erzählt sie im Porträt.

Text: Anne-Sophie Keller; Foto: zvg

«Ich war schon als kleines Kind psychisch oft sehr instabil und hatte starke Gefühlsschwankungen», erzählt Rahel F. Zudem war die heutige Softwareingenieurin frühreif, neugierig, wollte alles wissen und am liebsten alles perfekt machen. «In der Schule fand ich keinen Anschluss. Ich wollte einfach dazugehören, aber andere machten sich lustig über mich.» Durch die Hänseleien entstanden eine grosse Einsamkeit und ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit.

Als Rahel durch eine Kollegin zum ersten Mal von selbstverletzendem Verhalten erfuhr, war sie schockiert. Aber auch neugierig: «Ich fühlte mich von der ganzen Welt verraten und dachte: Dann probiere ich das halt mal.» Zuerst ritzte sich Rahel mit Scheren, dann folgten Küchenmesser, schliesslich Rasierklingen. «Es hatte für mich zu Beginn einen erleichternden Effekt, aber ich bin auch darüber erschrocken, dass ich dazu in der Lage war», berichtet Rahel über ihre ersten Erfahrungen mit Selbstverletzung. «Später kam der Stress dazu, dass es meine Eltern nicht erfahren durften und ich in der Schule meine Arme verstecken musste.»

Mädchen sind häufiger als Jungs von Selbstverletzung betroffen

Rahel ist unterdessen 21 Jahre alt. Einen Viertel ihres Lebens hat sie sich geritzt. Mit ihrer Geschichte ist sie nicht allein: Eine in Deutschland durchgeführte Befragung ergab, dass sich 30 Prozent der Jugendlichen bereits mindestens einmal selbst verletzt haben; 10 Prozent sogar wiederholt.

«Selbstverletzendes Verhalten nimmt ab dem Alter von 12 Jahren zu, erreicht die höchste Prävalenz mit 15 bis 16, und nimmt danach wieder ab», erklärt Dr. Andrea Wyssen, Chefpsychologin bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern. Mädchen sind häufiger in Behandlung wegen selbstverletzenden Verhaltens und es gibt Unterschiede zwischen den Geschlechtern: «Während Mädchen sich oftmals ritzen oder schneiden, verbrennen sich Buben oder boxen gegen eine Wand.» 

«Die Betroffenen weisen oft eine erhöhte Sensitivität auf emotionale Reize und Schwierigkeiten in der Impulskontrolle auf.»
Dr. Andrea Wyssen, Chefpsychologin Universitäre Psychiatrische Dienste Bern

Selbstverletzung ist nicht gleich Borderline-Störung

Einen generellen Auslöser für selbstverletzendes Verhalten gibt es laut der Expertin nicht, aber bestimmte Muster: «Die Betroffenen weisen oft eine erhöhte Sensitivität auf emotionale Reize und Schwierigkeiten in der Impulskontrolle auf. Sie können sich emotional schlechter regulieren als andere», sagt Wyssen.

Selbstverletzungen würden den Betroffenen für einen kurzen Moment ermöglichen, sich wieder zu spüren oder einen unerträglichen emotionalen Zustand zu beenden. «Andererseits kosten die gedankliche Beschäftigung mit der Thematik sowie die Kontrolle des Drangs enorm viel Energie.» 

Selbstverletzendes Verhalten tritt selten isoliert auf. «Häufig sind depressive Symptome oder Angstsymptome involviert. Hinzu kommen oft der soziale Rückzug sowie ein negatives Körperbild.» Ein gängiges Vorurteil räumt Andrea Wyssen gleich aus dem Weg: «Selbstverletzendes Verhalten ist zwar ein Symptom für eine Borderline-Störung; für eine Diagnose müssen jedoch fünf von neun Symptomen gegeben sein.»

Nichtsdestotrotz: Betroffene haben ein höheres Risiko für Suizidalität. «Dieser Zusammenhang ergibt sich durch geteilte Faktoren wie die emotionale Dysregulation und Belastung.»

Kurztherapien: ein erster Schritt in die Heilung

Medikamente gegen den Drang, sich selbst zu verletzen, gibt es keine. Selbsthilfeprogramme können bei leichten Fällen helfen, aber eine Psychotherapie ist das Mittel der Wahl. «Neueste Erkenntnisse aus der Forschung zeigen, dass Kurzzeittherapien sehr sinnvoll sind», sagt Andrea Wyssen. «Bereits nach zehn Sitzungen reduzieren sich die Selbstverletzungen um 50 Prozent, manche verletzen sich gar nicht mehr.» In gewissen Fällen sei eine intensivere Psychotherapie wie etwa eine Traumatherapie nötig, um die zugrundeliegenden Belastungen zu reduzieren.

Auch bei Rahel ist Letzteres nötig: Als 14-Jährige war sie über ein Jahr in einer körperlich und emotional missbräuchlichen Beziehung. «Die Missbrauchsgeschichte führte bei mir zu einem noch stärkeren Kontrollbedürfnis.» Das Ritzen wurde Teil ihres Alltags und entwickelte sich zur Sucht. «Ich habe mir eingeredet, dass ich das brauche.»

Als sie erkannte, wie gefährlich die Situation geworden war, bat sie ihre Mutter um Hilfe. «Sie hat mich zuerst gefragt, ob sie etwas falsch gemacht habe», erinnert sich Rahel. Nach langem Suchen fand sie schliesslich eine geeignete Psychiaterin: «Sie hat sich Zeit genommen und mir Zeit gegeben. Sie hat keinen Druck gemacht und mich nicht in eine Klinik eingewiesen. Stattdessen hat sie mich respektiert und meine geistige Reife anerkannt.»

Gesunde Strategien entwickeln

Trotz guter Betreuung blieb das Verhalten bestehen. Als sie 18 war, kam der Wendepunkt. «Pferde waren schon immer meine Leidenschaft. Tiere vermittelten mir eine Stabilität, die mir kein Mensch geben konnte.» Ihre Eltern schenkten ihr ein eigenes Pferd – unter der Bedingung, dass sie sich darum kümmern müsse, auch finanziell. «Als ich Remény erhielt, merkte ich: Jetzt trage ich Verantwortung; jetzt muss ich mich um etwas kümmern.» Von einem Tag auf den anderen hat sie mit dem Ritzen aufgehört. Bis heute. Remény – der Name bedeutet Hoffnung auf Ungarisch.

Auch wenn das Ritzen vorbei ist, kämpft Rahel bis heute mit depressiven Phasen. «In der Therapie versuche ich zu verstehen, was damals passiert ist und inwiefern es mich noch heute beeinflusst.» Zudem lernt sie, gesunde Strategien zu entwickeln: «Zum Beispiel indem ich bei destruktiven Gedankenstrudeln analysiere, welche Gedanken ein toxisches Muster bilden und was eigentlich wirklich passiert ist.» Und in Momenten, in denen sie sich früher geritzt hat, um sich zu spüren, hilft heute etwas anderes: «Atmen, atmen, atmen. So komme ich wieder in meinen Körper.»

Letztes Jahr hatte sie in einer belastenden Phase einen kurzen Moment, in dem sie an einen Rückfall dachte. Warum sie sich doch nicht geritzt hat, kann sie nicht so genau sagen: «Ich glaube, ich wollte mein Umfeld und mich selbst nicht enttäuschen. Ich habe mich schon genug verletzt – innerlich wie äusserlich. Es muss möglich sein, dass ich ein stabiles Leben führen kann.»

Rahel scheint mit sich selbst ins Reine gekommen zu sein: «Wenn ich meine Arme anschaue, denke ich: Das ist ein Teil von mir und ein Päckli, das ich ein Leben lang tragen werde. Aber es hat mich auch zu der gemacht, die ich heute bin.»

Teilen