Dossier: Starke Psyche

Wenn Kontrolle zwanghaft wird

Rund 150’000 Menschen in der Schweiz leben mit einer Zwangsstörung, obwohl viele zwanghafte Gedanken und Handlungen therapiert werden können. Je früher Betroffene Hilfe suchen, desto besser sind die Heilungschancen.

Text: Nicole Krättli; Foto: iStock

«Ich muss vor jedem Verlassen der Wohnung kontrollieren, ob der Herd wirklich aus ist», schreibt User Felix in einem Online-Forum. Userin Christina89 kennt diese Art von Zwängen. Sie frage sich auf dem Arbeitsweg regelmässig, ob sie ihre Kaffeemaschine wirklich ausgeschaltet habe. «Manchmal schaue ich zwei- oder dreimal nach», schreibt sie und gibt zu, dass sie schon vom Büro zurück nach Hause gefahren sei, nur um zu überprüfen, ob die Maschine wirklich aus ist. Solche und ähnliche Geschichten häufen sich in Online-Foren. Menschen berichten in der sicheren Anonymität des Internets darüber, wie sie bis zu 16 Mal am Tag kontrollieren, ob die Türe richtig geschlossen ist. User Oli erklärt sich sein Verhalten so: «Das alles habe ich gemacht, weil in meinem Kopf das Gefühl war, es passiere was Schlimmes, wenn ich es nicht tue.»

Gemäss Schätzungen der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen leiden rund 150’000 Menschen in der Schweiz an einer behandlungsbedürftigen Zwangsstörung. Fachliche Hilfe holen sich viele Betroffene erst relativ spät. «Ein Grund dafür ist, dass zwanghaftes Verhalten häufig mit Schamgefühlen verbunden ist», erklärt Fachpsychologin Sibylle Brunner. Hinzu kommt, dass es für Betroffene schwierig einzuschätzen ist, ab wann das eigene Verhalten tatsächlich zwanghaft ist. «Sobald Sie Kontrollmechanismen mehrmals am Tag durchspielen müssen, dies viel Zeit kostet und Ihr Wohlbefinden sowie Ihre sozialen Aktivitäten darunter leiden, sollten Sie eine Fachperson aufsuchen», erklärt Brunner weiter. 

Fliessender Übergang vom Ritual zur Störung

Rituale gehören zum Leben. Sie schaffen Ordnung und geben Sicherheit. «Üblich ist es, etwas einmal zu kontrollieren und dann die Gewissheit zu haben, dass alles in Ordnung ist», erklärt die Fachpsychologin. Ein Mensch, der unter einer Zwangsstörung leidet, wird allerdings innerhalb kürzester Zeit wieder unsicher und entwickelt deshalb das Bedürfnis, etwas noch einmal zu kontrollieren. Und noch einmal. Und noch einmal …

Noch problematischer wird es dann, wenn die Kontrolle ausgebaut wird. Brunner hat in ihrer Praxis in Bremgarten bei Bern regelmässig mit Betroffenen zu tun, die ganz spezifische Verhaltensweisen entwickeln, denen sie sich unterwerfen müssen. «Die Betroffenen spüren nicht nur den Drang, zu kontrollieren, ob der Wasserkocher aus ist, sondern sie müssen mit der Zeit auch den Stecker ziehen. Irgendwann muss dann zusätzlich das Kabel in einem bestimmten Sicherheitsabstand zur Stromzufuhr liegen.» So geht das immer weiter. Solche Zwänge können nicht nur an einem Gegenstand ausgelebt werden, sondern sich auch auf andere Geräte, Türen, Lichtschalter und so weiter ausweiten. Dies kann im schlimmsten Fall Stunden in Anspruch nehmen. «Betroffene planen ihr Leben ab einem gewissen Zeitpunkt um ihre Zwänge herum, bis sie das Haus unter Umständen gar nicht mehr verlassen können», sagt Brunner. 

Ursache von Zwangsstörungen nicht restlos geklärt

Zwangsstörungen können sich auf verschiedene Weise äussern. Abhängig davon, ob es sich um Gedanken oder Taten handelt, unterscheidet man Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Diese können sich etwa in Zusammenhang mit Gewalt, Schmutz und Verseuchung, Ordnung, Sexualität oder Religion zeigen. Zwangsstörungen kommen in allen Kulturen vor und betreffen sowohl Männer als auch Frauen gleichermassen. Bei knapp einem Fünftel aller Betroffenen kommt es schon vor dem zehnten Lebensjahr zur Entwicklung der Störung. Diagnostiziert wird die Erkrankung dann allerdings oft erst viel später.

Eine klare Ursache für diese Art von Leiden hat die Wissenschaft bisher noch nicht identifiziert. In Forschungsprojekten hat man allerdings herausgefunden, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen können. Wenn einer oder beide Elternteile an einer Zwangserkrankung leiden, erhöht sich das Risiko, dass auch bei den Kindern eine Zwangsstörung auftreten wird. Wichtiger als die Veranlagung scheinen aber wohl neurobiologische Faktoren zu sein. Forschende der deutschen Universität Würzburg haben herausgefunden, dass das Fehlen eines bestimmten Proteins im Körper dazu führen kann, dass sich etwa ein übersteigertes Sauberkeitsverhalten entwickelt. Normalerweise hemmt dieses Protein einen wichtigen Signalweg der Zelle. Ohne dieses Protein kommt es zu einer überschiessenden Reaktion, die sich beim Menschen im Ausführen von Zwangshandlungen manifestieren kann. 

Zwangsstörungen können therapiert werden

Klar ist: Je früher man sich Hilfe holt, desto besser stehen die Chancen, die Zwangsstörung zu überwinden. «Mit einer kognitiven Verhaltenstherapie können dysfunktionale durch funktionale Gedanken ersetzt werden», erklärt Fachpsychologin Sibylle Brunner. Dazu setzen sich Betroffene, angeleitet und begleitet durch eine Therapeutin, Situationen und Reizen aus, die ein zwanghaftes Verhalten auslösen. So kann der Umgang mit Ängsten und Spannungen gezielt trainiert werden. «Es braucht manchmal etwas Zeit, aber die Heilungschancen sind sehr gut», bestätigt Brunner.  

Tipps: Hilfe zur Selbsthilfe

Haben Sie zwanghafte Gedanken oder zwanghaftes Verhalten bei sich festgestellt? Die Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.

Psychotherapie: Eine wirksame Behandlung von Zwangsstörungen verspricht die Verhaltenstherapie. Sie hilft dabei, aus den Zwangsritualen auszubrechen und negative Gedanken zu neutralisieren.

Medikamente: Zwangsstörungen können medikamentös behandelt werden. Insbesondere Arzneimittel, die den Botenstoff Serotonin beeinflussen, haben sich in der Behandlung von Zwangsstörungen als hilfreich erwiesen.

Selbsthilfegruppen: Sie sind mit Ihrer Zwangsstörung nicht allein. Tauschen Sie sich mit anderen aus – physisch oder virtuell –, um zu erfahren, wie diese mit der Erkrankung umgehen.

Angehörige: Vielfach werden Angehörige Teil eines Zwangssystems, indem sie stellvertretend für die betroffene Person Kontrollen durchführen müssen. Es ist deshalb sinnvoll, Angehörige aktiv in den Heilungsprozess einzubeziehen.

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