Dossier: Starke Psyche

Borderline-Persönlichkeitsstörung: Symptome und Hilfe

Ein Leben in Extremen: Borderline stellt Betroffene und ihr Umfeld vor Herausforderungen. Dr. med. Roland Stehr erklärt, welche Ursachen die Persönlichkeitsstörung hat, wie sie behandelt wird und wie Angehörige einen Umgang damit finden.

Text: Anne-Sophie Keller; Bild: iStock

Definition: Was ist eine Borderline-Störung?

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört zu den häufigsten Persönlichkeitsstörungen: Rund zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz leiden darunter. Die Erkrankung ist meist von einer emotionalen Achterbahnfahrt geprägt und findet in zahlreichen Symptomen ihren Ausdruck.

Symptome: 10 Anzeichen für Borderline

Auch wenn das Krankheitsbild vielseitig aussieht, gibt es gewisse Hinweise, die auf eine Borderline-Störung hindeuten . Dazu gehören folgende Anzeichen:

  • Stimmungsschwankungen: entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt
  • instabile Beziehungen: viele Hochs und Tiefs mit jeweils starken Gefühlen, dazu kommt auch eine Tendenz zu toxischen Beziehungen
  • Identitätskrisen: viele haben eine verzerrte Selbstwahrnehmung
  • hohe Risikobereitschaft: dazu gehört auch eine erhöhte Suchtgefahr
  • Verlustängste: basierend auf einem negativen Selbstbild, oft gekoppelt mit starker Eifersucht
  • impulsives, auch destruktives Verhalten: gerade in Stresssituationen reagieren Patient:innen überstürzt und kopflos
  • Selbstverletzung und Suizidalität: der verzweifelte Versuch, den momentanen, unaushaltbaren Zustand zu verändern
  • Dissoziation: wenn Betroffenen ihre Umgebung und das Selbst fremd erscheint
  • Leeregefühle: Gefühl der Unerfülltheit oder Langweile
  • psychische Probleme als Begleiterkrankungen

Borderline-Symptome bei Frauen

Bei Borderline-Symptomen lassen sich grundsätzlich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede erkennen. Schaut man jedoch genauer hin, wie sich die Symptome äussern, gibt es gewisse Tendenzen: So richten Frauen das impulsive Verhalten gegen sich selbst und neigen zu Selbstverletzungen, während Männer ein aggressives Verhalten eher gegen aussen richten.

Welche Borderline-Typen gibt es?

Das Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist vielfältig und zeigt sich in individuellen Symptomen. Jedoch lassen sich grundsätzlich fünf Typen kategorisieren:

  1. Affektiv: Wenn die Emotionen Achterbahn fahren, können bereits kleinste Unstimmigkeiten in Beziehungen zu Depressionen oder Angstzuständen führen.
  2. Impulsiv: Hier führen Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle zu einem risikoreichen Verhalten, das oft zu starken Schamgefühlen im Nachhinein führt.
  3. Aggressiv: Schon Kleinigkeiten führen zu einem aufbrausenden Verhalten, oft bricht die Wut unkontrolliert heraus.
  4. Abhängig: Dieser Typ ist von einer hohen Verlustangst geprägt und hat Mühe damit, eigene sowie fremde Grenzen zu respektieren.
  5. Innere Leere: Wenn das Vertrauen in sich selbst, in Beziehungen und die Welt fehlt, haben Betroffene oft ein grosses Leeregefühl und ein hohes Bedürfnis an Halt.

Ursachen: Wie entsteht eine Borderline-Störung?

Borderline geht – wie viele andere psychische Erkrankungen – häufig mit einer Störung der frühkindlichen Bindung einher. Werden emotionale Grundbedürfnisse nicht erfüllt, führt dies im Kindes- und Erwachsenenalter zu Verlustängsten und einem gestörten Bindungsmuster. Erleben Kinder missbräuchliches oder abwertendes Verhalten, leiden sie später oft an einem verzerrten Selbstbild und können ihre Emotionen schlecht regulieren.

«Für viele Patient:innen ist es ein Aha-Erlebnis, zu verstehen, dass Emotionen uns zwar angeboren sind, der Umgang mit ihnen aber etwas ist, das wir lernen müssen», erzählt Dr. med. Roland Stehr. Der 60-jährige Oberarzt ist Abteilungsleiter der Psychotherapiestation Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen der Psychiatrie St. Gallen. Den Umgang mit Emotionen lernen wir als Kind durch Erfahrung und Nachahmung. «In einer kindgerechten, liebevollen, wertschätzenden und verlässlichen Umgebung passiert das normalerweise von selbst», so der Experte.

«Viele Betroffene denken beispielsweise, sie hätten es nicht verdient, geliebt zu werden.»
Dr. med. Roland Stehr, Abteilungsleiter der Psychotherapiestation Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen, Psychiatrie St. Gallen

Aber da nicht immer alles normal läuft, entstehen Störungen der Emotionsregulierung: «Bewältigungsmuster, die in der Kindheit zunächst gut funktioniert haben, werden später zu unbewussten, hinderlichen Automatismen.» In einer Therapie können diese bewusst gemacht und somit verstanden werden. «Zudem hinterfragen wir Glaubenssätze. Viele Betroffene denken beispielsweise, sie hätten es nicht verdient, geliebt zu werden.»

Diagnose: Wie wird das Borderlinesyndrom festgestellt?

Borderline gehört zu den sogenannten «emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen» und wird im Rahmen einer Psychotherapie in zwei Schritten diagnostiziert. Laut dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf müssen zuerst mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen:

  • deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen
  • Neigung zu Wutausbrüchen mit Unfähigkeit zur Kontrolle dieses Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • unbeständige und launische Stimmung

Damit der Borderline-Typus (ICD-Code F60.31) erfüllt ist, müssen zusätzlich mindestens zwei der folgenden Eigenschaften und Verhaltensweisen vorliegen:

  • Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und «inneren Präferenzen» (einschliesslich sexueller)
  • Neigung, sich auf intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen
  • übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden
  • wiederholt Drohungen oder Handlungen mit Selbstschädigung
  • anhaltende Gefühle von Leere

Behandlung: Wie wird Borderline therapiert?

Die Behandlung einer Borderline-Erkrankung ist herausfordernd und bedarf Geduld. Inzwischen gibt es jedoch zahlreiche erprobte Behandlungsansätze, die zu einer deutlichen Reduktion der Symptome und einem verbesserten zwischenmenschlichen Verhalten führen.

«In den letzten Jahren sind verschiedene Psychotherapieverfahren entwickelt worden, die im Einzel- oder im Gruppensetting angewendet werden können», sagt Roland Stehr. Zu diesen Verfahren gehören die dialektisch-behaviorale Therapie, die Schematherapie, die mentalisierungsbasierte Therapie und die übertragungsfokussierte Therapie.

Was sind die Ziele der Borderline-Behandlung?

In erster Linie geht es darum, dysfunktionale Bewältigungsstrategien ab- und funktionale Strategien aufzubauen. «Wenn ich meinen Stress mit selbstverletzendem Verhalten kompensiere, funktioniert das langfristig nicht und hat Konsequenzen. Wenn ich es schaffe, in diesen Momenten etwas zu machen, das mich ebenso herausnimmt, aber keine langfristigen negativen Folgen mit sich bringt, dann habe ich es auf eine gesündere Weise geschafft.»

Was wäre eine solche gesunde Reaktion? «Barfuss durch den Schnee laufen, laute Musik hören oder auf eine scharfe Chilischote beissen – all das gibt einen ordentlichen Reiz und holt uns so weit aus dem Hochstress zurück, dass wir wieder sinnvoll handeln können.»

Vielleicht helfe auch die Erkenntnis, dass alle Menschen mehr oder weniger gesunde Stressbewältigungsstrategien haben – zum Beispiel die Entspannungszigarette. «Auch Gefühlsschwankungen sind normal», so Stehr. Bei Borderline-Patient:innen sind diese einfach viel ausgeprägter, und darum braucht es spezifischere Strategien.

Kann Borderline geheilt werden?

Die Frage, ob Borderline heilbar sei, taucht bei Stehrs Patient:innen immer wieder auf. Zu deren Beantwortung muss er etwas ausholen: «Die Diagnose wird anhand von Kriterien wie Impulsivität festgemacht. Und diese kann man beeinflussen.» Das heisst: Irgendwann sind die Kriterien nicht mehr in der erforderlichen Anzahl vorhanden, um die Diagnose Borderline zu stellen.  

In der ambulanten Behandlung, die im Regelfall zum Zuge kommt, geht man von einer Therapiedauer von mindestens einem bis zwei Jahren aus. «Bis dahin sind Patient:innen zwar nicht symptomfrei, können meist aber ein gutes und sinnerfülltes Leben führen. Mehr als die Hälfte der Betroffenen erzielen eine deutliche Verbesserung.»

Tipps zum Umgang mit Borderline-Patient:innen

Die wenigsten Menschen setzen sich ausführlich mit psychischen Erkrankungen wie Borderline auseinander. Treffen sie auf eine betroffene Person, sind sie durch deren impulsives Verhalten meist überfordert. Diese emotionale Belastung kann zu chronischen Konflikten führen. Umso wichtiger ist ein bewusster Umgang damit. «Wir alle betrachten und beurteilen die Welt durch die Brille unserer eigenen Erfahrungen», erklärt Roland Stehr.

Gerade bei Borderline-Betroffenen ist dieses Einordnen wichtig. «Durch deren hohe Emotionalität kann eine Verspätung des Gegenübers bereits zu einem Gefühl der Entwertung führen und als existenzielle Bedrohung empfunden werden. «Wenn man versteht, dass die Betroffenen gerade wirklich ums Überleben kämpfen, wird einem klar, warum auch die entsprechende Reaktion heftig ausfallen kann.»

Borderline in einer Beziehung

Menschen mit Borderline neigen dazu, ihre Partner:innen zu idealisieren, und lassen sich schnell auf neue Personen ein. Jedoch entstehen durch die Angst vor dem Alleinsein auch oft ungesunde Muster wie Eifersucht. «Verzweifelte Versuche, das Verlassenwerden zu vermeiden, können manipulativ wirken. Sie sind jedoch keine bewussten Akte der Bösartigkeit, sondern ein Handeln aus Not», ordnet Roland Stehr ein.

Reagiert die Beziehungsperson darauf abweisend, verstärkt sich die Dynamik. Oft ziehen Borderline-Patient:innen dann überschnell die Reissleine. «Es ist zentral, diese Muster zu erkennen und sich bei Bedarf psychologische Unterstützung zu holen.» Dies kann auch im Rahmen einer Paartherapie geschehen.  

Tipps für Angehörige

Borderline ist für Betroffene oft schambehaftet; zudem fehlt ihnen durch die Stigmatisierung der Krankheit das Verständnis ihrer Angehörigen. Doch auch hier: Ein gutes Leben ist möglich. Ein begleiteter Dialog mit einer Fachperson kann helfen, einen verständnisvollen Umgang mit der Situation zu finden und damit die Beteiligten zu entlasten.  

Über den Experten

Dr. med. Roland Stehr ist Oberarzt und Abteilungsleiter der Psychotherapiestation Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen der Psychiatrie St. Gallen.

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