Dossier: Gesundes Gehirn

Dissoziative Identitätsstörung: «Meine Diagnose macht den Menschen Angst»

Nach zahlreichen traumatischen Erlebnissen in ihrer Kindheit hat Martina Neuhaus* eine dissoziative Identitätsstörung (DIS) entwickelt. Ein Einblick in ihr Leben und den herausfordernden Alltag mit über 20 Persönlichkeiten.

Text: Nicole Krättli; Foto: Unsplash

«Die meisten Menschen haben eine komplett falsche Vorstellung einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Sie denken an reisserische Hollywoodfilme oder effekthascherische Medienbeiträge, glauben, dass Betroffene plötzlich ihre Stimme verändern, sich mit einem anderen Namen vorstellen, ja sogar eine Gefahr für ihre Mitmenschen darstellen. Das Gegenteil ist der Fall: Weder mein Umfeld noch meine Familie hat gemerkt, was mit mir los ist. Sie sahen nur die strahlende Martina* und dachten, es sei alles in Ordnung mit mir.

Ich hingegen spürte schon früh, dass irgendetwas nicht stimmt. Zuerst waren da die extremen Schlafstörungen. Über Monate hinweg bekam ich maximal drei Stunden Schlaf pro Nacht, manchmal überhaupt keinen. Die Ärzte glaubten mir nicht. Sie sagten, würde ich wirklich so wenig schlafen, könnte ich gar nicht mehr vor ihnen stehen. Neben den Schlafstörungen waren da aber auch diese Episoden, die sich wohl am ehesten mit einer Extremform von Panikattacken umschreiben lassen. Und dann gab es noch jene Momente, in denen ich mein Handeln nur noch wie von einer Rückbank meines Gehirns aus beobachten, nicht aber mehr aktiv beeinflussen konnte. Diese Situationen machten mir unglaublich Angst. Nach einem langen Leidensweg und einigen Fehldiagnosen wurde bei mir schliesslich eine dissoziative Identitätsstörung – früher unter dem Namen multiple Persönlichkeitsstörung bekannt – festgestellt.

Persönlichkeitsanteile zu identifizieren kostet viel Energie 

Seither kann ich dank der Hilfe meiner Therapeutinnen und meines Mannes eine Verbindung zu verschiedenen Anteilen meiner Persönlichkeit herstellen. Da sind zum Beispiel die freiheitsliebenden Anteile, die sich am wohlsten fühlen, wenn sie auf dem Snowboard den Berg hinuntersausen. Da sind die kindlichen Anteile, die Angst im Dunkeln haben, gerne Süssigkeiten essen und sich Fantasiegeschichten ausdenken. Da sind die beschützenden Persönlichkeiten, die sicherstellen, dass ich mich in der Öffentlichkeit unauffällig verhalte. Mittlerweile habe ich über 20 verschiedene Persönlichkeitsanteile identifizieren können. Wahrscheinlich sind es noch mehr, doch sie zu benennen und voneinander zu unterscheiden, ist ein langwieriger und komplexer Prozess, der viel Energie kostet.

Und da bin ich: Martina. Ich bin 37 Jahre alt, verheiratet, lebe in einer Wohnung auf dem Land, die ich während der letzten Jahre zu einer sicheren Oase umdekoriert habe. Ich lese gern und treibe Sport. Ich bin das Gesicht, das die Menschen kennen, wenn sie an Martina denken. Ich strahle und lache viel – manchmal, weil ich mich danach fühle; manchmal, weil ich glaube, dass man mir so nichts anmerkt. Ich tue alles dafür, dass die Menschen nicht sehen, was wirklich in mir vorgeht, denn sie würden es nicht verstehen.

DIS-Betroffene haben Angst, darüber zu sprechen

Ich hab’s versucht. Ich habe wenigen nahestehenden Menschen erzählt, dass bei mir eine dissoziative Identitätsstörung festgestellt wurde. Manche lachten nur und sagten: ‹Aber bei dir doch nicht, Martina. Man merkt dir ja gar nichts an.› Das Traurige ist, dass sogar Ärzte vielfach daran zweifeln, weil sie in ihrer ganzen Laufbahn nur wenige Patienten mit einer dissoziativen Identitätsstörung getroffen haben. Ich denke dann immer: ‹Mir hätten Sie doch auch nichts angemerkt, hätte ich nichts gesagt.› Das ist das Problem: Es gibt viel mehr von DIS Betroffene, als man glaubt, aber die meisten sprechen nicht darüber oder wissen aufgrund von Fehldiagnosen selbst nicht, was mit ihnen los ist. Mein Leben wäre sehr viel einfacher, könnte ich offen darüber reden, was in mir vorgeht. Aber den Menschen macht meine Diagnose Angst.

Das führt dazu, dass ich sehr zurückgezogen lebe. Meinen Job musste ich aufgeben und das Studium, das ich vor einigen Jahren begonnen hatte, abbrechen. Mein ganzer Tag ist sehr genau strukturiert. Selbst scheinbar simple Dinge wie Essen sind für mich ein Kraftakt, weil ich sie stets mit all meinen Persönlichkeitsanteilen abstimmen muss. Das führt beispielsweise dazu, dass ich meistens kleine Portionen von vielen verschiedenen Dingen esse, damit alle Anteile von mir zufrieden sind. Am Wochenende gibts dann häufig Süssigkeiten, damit auch die Kleinen den nötigen Raum bekommen.

Trigger im Alltag sind das eigentliche Problem

Die Abendstunden gehören meinen verschiedenen Persönlichkeitsanteilen. Da ich mich selbst nicht direkt mit ihnen unterhalten kann, tut mein Mann das für mich. Er spricht mit ihnen und stellt ihnen teilweise Fragen, die ich den anderen Persönlichkeiten stellen möchte. Es braucht sehr viel Vertrauen bis ein Persönlichkeitsanteil mein Sprachzentrum übernimmt. Dann aber ist es tatsächlich so, hat mir mein Mann erzählt, dass sich meine Stimme verändert – beispielsweise kindlicher wird – und dieser Persönlichkeitsanteil Wörter verwendet, die ich nicht verwenden würde.

Die grösste Schwierigkeit in meinem Alltag sind allerdings die vielen Trigger. Nur schon ein Geruch kann reichen, um eine schlimme Episode in einer meiner Persönlichkeitsanteile auszulösen. Was dann passiert, ist ganz unterschiedlich. Manchmal entwickelt sich eine kaum erträgliche Panik, manchmal erstarre ich komplett, manchmal verkrampfe ich mich so sehr, dass es wirkt, als hätte ich einen epileptischen Anfall. Diese Dinge machen mir besonders grosse Angst, da ich sie nicht kontrollieren kann und mich schäme, wenn sie vor anderen Menschen auftreten.

Meisterleistung des Gehirns

Wobei Dissoziation nichts ist, wofür man sich schämen müsste. Im Gegenteil: Es ist unglaublich beeindruckend, wie unser Gehirn es schafft, mit traumatischen Erlebnissen umzugehen. Wenn ein Trauma so schrecklich ist, dass man es nicht verkraften könnte, kann dieses Leid – vereinfacht erklärt – auf verschiedene Teile des Gehirns verteilt werden, sodass man die unglaublichen psychischen und physischen Schmerzen überhaupt aushält. Diese verschiedenen Hirnregionen entwickeln sich aufgrund der traumatischen Erlebnisse unabhängig voneinander, sodass sich eigene Identitäten mit eigenen Vorlieben, eigenen Erlebnissen, Wünschen und Bedürfnissen formen. Über den Grund, weshalb mein Gehirn während meiner Kindheit so reagieren musste, möchte ich nicht sprechen. Tatsächlich habe ich auch keine Erinnerung daran, was mir angetan wurde.  Die Erinnerungen der Persönlichkeitsanteile, die sich an die Traumata erinnern können, sind für mich noch nicht zugänglich.

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine Diagnose und wird somit als Krankheit eingestuft. Ich sehe es anders: Ich habe ein Gehirn, das etwas anders funktioniert als die meisten anderen Gehirne. Für mich sind es dann auch nicht die Persönlichkeitsanteile an sich, die mir das Gefühl geben, krank zu sein. Es sind die Symptome einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), unter denen meine vielen Persönlichkeitsanteile leiden. Die PTBS ist es, die aufgrund verschiedener Trigger all diese belastenden Symptome auslöst. Entsprechend geht es in der Therapie auch nicht primär darum, die verschiedenen Persönlichkeiten zu einer zusammenzuführen. Stattdessen sollen die Traumata, welche die einzelnen Anteile erlebt haben, so verarbeitet werden, dass sie hoffentlich irgendwann frei von PTBS-Symptomen sind und so fehlende Verbindungen zwischen den Anteilen geschaffen werden können, um den Austausch untereinander zu erleichtern. Sollte ich das irgendwann tatsächlich schaffen, weiss ich nicht, ob ich überhaupt wollen würde, dass sich meine verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu einer formen. Ich möchte die Vielseitigkeit, die Fähigkeiten und die Eigenschaften der Anteile nicht verlieren. Denn letztlich sind alle diese Persönlichkeiten aus einem Kern entstanden und ich bin nur ich, wenn sie ebenfalls da sind.»

*Name geändert 

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